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»Vorgestern hat dein Onkel in der Schenke mit einem alten Manne Tee getrunken ... ein Bibelkundiger muß es wohl gewesen sein. Der alte Mann meinte, daß in der Bibel stände: ›Friedlich sind die Zelte der Räuber, und gemächlich die Häuser jener, so den Herrn erzürnen, Ihn aber offen vor den Leuten auf ihren Händen tragen‹ ...«

»Phantasierst du nicht wieder?« fragte ihn Ilja, während er Jakow aufmerksam ansah.

»Es sind doch nicht meine Worte«, versetzte Jakow und streckte die Arme zur Seite, als ob er in der Luft etwas zu greifen suchte. »Vielleicht hat er sich das nur ausgedacht ... der alte Fuchs ... vielleicht steht das gar nicht in der Bibel. Ich fragte ihn einmal, zweimal ... und jedesmal wiederholte er die Worte genau so wie vorher.«

Und während er sich zu Ilja vorbeugte, fuhr er leise fort:

»Nehmen wir zum Beispiel meinen Vater ... Wie ruhig der lebt – und doch reizt er Gott zum Zorne ...«

»Und wie!« rief Ilja aus.

»Jetzt haben sie ihn gar zum Stadtverordneten gewählt ...«

Jakow ließ seinen Kopf auf die Brust sinken, seufzte schwer und sprach weiter:

»Jede menschliche Angelegenheit sollte vor dem Gewissen so klar sein wie Quellwasser! Und hier ... ach, es widert mich an! ... Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll ... Ich weiß mich in dieses Leben gar nicht zu schicken, hab' gar keine Lust dazu ... Der Vater hackt immer auf mich los: ›'s ist endlich Zeit,‹ sagt er, ›daß du aufhörst mit deinen Spielereien. Werde endlich vernünftig und mache dich nützlich ...‹ Wie aber soll ich mich nützlich machen? Ich steh' manchmal hinterm Büfett, wenn Terentij nicht da ist ... Zuwider ist es mir, doch ich ertrag's schließlich ... Aber von selbst etwas anzufangen – das bring' ich nicht fertig ...«

»Mußt es eben lernen«, sagte Ilja in gesetztem Tone.

»Das Leben ist so schwer«, meinte Jakow leise.

»Schwer? für dich? ... Rede keinen Unsinn!« rief Ilja, während er vom Bett aufsprang und auf den Freund zuging, der am Fenster saß. »Mein Leben ist wohl schwer – aber das deinige? Was fehlt dir denn noch? Wird dein Vater alt, so übernimmst du das Geschäft und bist dein eigener Herr ... Und ich? Ich drücke mich den ganzen Tag auf der Straße herum, sehe in den Schaufenstern Hosen, Westen, Uhren und so weiter ... sehe sie mir an und denke: ›Ich kann keine solchen Hosen tragen, kann mir keine solche Uhr kaufen! ...‹ Hast verstanden? Und doch möcht' ich's gar zu gern ... Ich will, daß mich die Leute achten. Worin bin ich schlechter als andere? Besser bin ich als sie! Ich kenne Leute, die sich wer weiß was dünken und doch Spitzbuben sind ... Und die wählt man zu Stadtverordneten! Sie haben Häuser ... Schankwirtschaften ... Warum haben solche Gauner Glück, und warum hab' ich kein Glück? Auch ich will vorwärtskommen ...«

Jakow schaute den Freund an und sagte leise, doch mit scharfer Betonung:

»Gott gebe es, daß du kein Glück hast!«

»Was? Warum denn!« schrie Ilja, während er mitten im Zimmer stehen blieb und erregt auf Jakow blickte.

»Du bist zu habgierig – wirst nie genug kriegen«, erklärte dieser.

Ilja lachte trocken und boshaft.

»Ich werde nie genug kriegen? Sag' doch mal deinem Vater, er soll mir nur die Hälfte von dem Gelde abgeben, das er mit meinem Onkel zusammen dem Großvater Jeremjej gestohlen hat – dann hätt' ich schon genug! Ja!«

Jakow erhob sich von seinem Stuhle und ging still, mit gesenktem Kopfe, nach der Tür zu. Ilja sah, wie seine Schultern zuckten, und wie sein Hals sich überneigte, als ob ihm jemand einen schmerzlichen Schlag in den Nacken versetzt hätte.

»Bleib doch!« rief Ilja verwirrt und faßte den Freund bei der Hand. »Wohin willst du denn?«

»Laß mich, Bruder!« sprach Jakow fast flüsternd, blieb jedoch stehen und sah Ilja an. Sein Gesicht war bleich, die Lippen waren fest aufeinandergepreßt, und seine Gestalt erschien wie gebrochen.

»Na, sei nicht böse ... bleib schon«, bat Ilja schuldbewußt, während er Jakow behutsam von der Tür wegführte. »Ärgre dich nicht über mich. Schließlich ist's doch wahr ...«

»Ich weiß es«, sagte Jakow.

»Du weißt es? Wer hat's dir gesagt?«

»Alle sagen es ...«

»Hm–ja ... Aber die es sagen, sind ebenfalls Spitzbuben ...«

Jakow sah ihn mit traurigen Augen an und seufzte.

»Ich hab's nicht geglaubt ... Ich dachte immer, sie sagten es nur aus Niederträchtigkeit, aus Neid. Dann aber glaubte ich's, und wenn auch du ...«

Er machte eine Handbewegung, die seine Verzweiflung ausdrücken sollte, wandte sich von Ilja ab und blieb unbeweglich stehen, wobei er seine Arme fest auf den Stuhlsitz stützte und den Kopf auf die Brust sinken ließ.

Ilja setzte sich in derselben Haltung wie Jakow auf sein Bett und schwieg, da er nicht wußte, was er dem Freunde als Trost sagen sollte.

»Hier soll man nun leben!« sagte Jakow halblaut.

»Ach ja–a«, versetzte Ilja in demselben Ton. »Ich kann's schon begreifen, Bruder, daß du dich hier nicht wohl fühlst. Der einzige Trost ist, daß es überall so ist. Die Menschen sind schließlich alle gleich.«

»Weißt du das wirklich so genau ... das von meinem Vater und Jeremjej?« fragte Jakow schüchtern, ohne den Freund anzusehen.

»Erinnerst du dich noch, wie ich damals fortlief? Ich hab's durch eine Spalte gesehen, wie sie das Kopfkissen zunähten ... er röchelte noch ...«

Jakow zuckte mit den Achseln. Er erhob sich, schritt auf die Tür zu und sagte zu Ilja:

»Leb' wohl!«

»Leb' wohl! ... Nimm's nicht zu schwer! Was kannst du schließlich dazu tun?«

»Ich? Leider gar nichts ...« sagte Jakow, während er die Tür öffnete.

Ilja folgte ihm mit den Augen und sank dann schwer auf sein Bett. Er hatte Mitleid mit Jakow, und von neuem brach in ihm der Haß gegen seinen Onkel, gegen Petrucha, gegen alle Menschen hervor. Ein so schwaches Wesen wie Jakow, der ein so gutes, stilles, reines Menschenkind war, konnte unter ihnen nicht leben. Ilja ließ seinen Gedanken über die Menschen freien Lauf, und in seinem Geiste tauchten verschiedene Erinnerungen auf, die ihm die Menschen als boshafte, grausame, verlogene Geschöpfe zeigten. Er kannte gar viele Begebenheiten, in denen er sie so gesehen hatte, und es war ihm eine Erleichterung, im stillen seinen Hohn an ihnen auszulassen. Je düsterer sie ihm erschienen, desto schwerer drückte ihn andrerseits ein seltsames Gefühl, in dem sich eine unbestimmte Sehnsucht mit boshafter Schadenfreude vermischte und mit der Furcht, ganz einsam zu bleiben inmitten dieses lichtlosen, traurigen Daseins, das wie ein toller Strudel ihn umwirbelte.

Schließlich verlor er die Geduld, so allein in dem kleinen Zimmer zu liegen, durch dessen Wand der Lärm und Qualm der Schenke zu ihm drang, und er erhob sich und ging ins Freie. Lange lief er in dieser Nacht in den Straßen der Stadt umher und trug mit sich die schwere Last seiner quälenden, düstren Gedanken. Er hatte die Empfindung, als ob jemand, der ihm feind war, im Dunkel hinter ihm hergehe und ihn immer unbemerkt dahin stoße, wo es recht traurig und langweilig war. Immer nur solche Dinge zeigte ihm dieser unsichtbare Feind, die in seiner Seele Gram und Bitterkeit erzeugten. Es gibt doch auch Gutes in der Welt – gute Menschen, und frohe Ereignisse, und Lustigkeit – warum sah er das alles nicht, kam er immer nur mit dem Düstren und Schlimmen in Berührung? Wer lenkte ihn stets auf das Schmutzige, Trostlose und Böse im Leben?

Ganz im Bann dieser Gedanken schritt er durch die Felder, an der steinernen Mauer eines vor der Stadt gelegenen Klosters vorüber, und schaute vor sich hin. Ihm entgegen zogen die Wolken, schwer und langsam, aus weiter, dunkler Ferne. Da und dort schimmerte aus dem Dunkel über seinem Kopfe zwischen den Wolken der Himmel hindurch, und kleine Sterne blinkten schüchtern von ihm nieder. Durch die Stille der Nacht klang von Zeit zu Zeit vom Turm der Klosterkirche der metallene Ton der Glocke – es war der einzige Laut in der Totenstille, welche die Erde umfing. Selbst aus der dunklen Masse der Stadthäuser hinter Ilja drang kein Ton des lärmenden Treibens hierher, obschon es noch nicht spät war. Es war eine kalte, frostige Nacht. Im Dahinschreiten stieß Ilja gegen den hartgefrorenen Schmutz. Ein banges Gefühl der Vereinsamung und die Furcht, die sein Grübeln hervorgerufen hatte, ließen ihn haltmachen. Er lehnte sich mit dem Rücken gegen das kalte Gestein der Klostermauer und sann von neuem darüber nach, wer es wohl sein möchte, der ihn durchs Leben führte und dabei voll Tücke stets alles Böse und Häßliche auf ihn losließ ...