Ein kalter Schauer überlief seinen Körper, und wie im bangen Vorgefühl eines Unglücks, das ihm bevorstand, riß er sich von der Mauer los und eilte mit hastigen Schritten, immer häufiger gegen den gefrorenen Schmutz stoßend, nach der Stadt zurück. Die Arme dicht an den Körper pressend, lief er vorwärts und wagte, von Furcht erfüllt, nicht ein einziges Mal, rückwärts zu schauen ...
XI
Ein paar Tage darauf traf Ilja mit Paschka Gratschew zusammen. Es war Abend, in der Luft tanzten träg kleine Schneeflocken, die im Licht der Laternen schimmerten. Trotz der Kälte war Pawel nur mit einem Baumwollhemd ohne Gürtel bekleidet. Er schritt langsam dahin, den Kopf auf die Brust gesenkt, die Arme in den Taschen, den Rücken gekrümmt, als ob er etwas auf seinem Wege suchte. Als Ilja den alten Kameraden eingeholt hatte und ihn anredete, hob Paschka den Kopf auf, sah Ilja ins Gesicht und sagte gleichgültig:
»Ah!«
»Wie geht es dir?« fragte Ilja, neben ihm hergehend.
»Es könnte noch schlechter gehen, wenn's überhaupt möglich wäre ... Und wie geht es dir?«
»Es macht sich ...«
»Auch nicht besonders, wie es scheint ...«
Sie schritten schweigend nebeneinander her, so daß ihre Ellenbogen sich berührten.
»Warum kommst du nicht zu uns?« fragte Ilja.
»Hab' nie recht Gelegenheit, Bruder ... Weißt doch, daß man unsereinem nicht viel Zeit läßt ...«
»Könntest schon kommen, wenn du wolltest!« sagte Ilja vorwurfsvoll.
»Sei doch nicht gleich böse ... Sagst immer, ich soll kommen – und dabei hast du noch nie gefragt, wo ich hause, und noch weniger denkst du dran, mich zu besuchen ...«
»Wirklich, du hast recht«, rief Ilja lächelnd.
Pawel sah ihn an, lächelte gleichfalls und begann nun lebhafter als vorher:
»Ich lebe für mich, hab' keine Freunde – finde keine, die mir passen. Krank war ich, habe fast drei Monate im Hospital gelegen – kein Mensch ist in der ganzen Zeit gekommen, mich zu besuchen ...«
»Was hat dir denn gefehlt?«
»Erkältet hatte ich mich, wie ich mal betrunken war ... Unterleibstyphus war's ... Als es dann besser wurde, hatt' ich erst meine Qual! Ganz allein lag ich den ganzen Tag und die ganze Nacht ... stumm und blind glaubt man zu sein ... wie 'n junger Hund kommt man sich vor, den sie in die Grube geworfen haben. Dank dem Doktor hab' ich wenigstens Bücher gehabt ... sonst wär' ich verreckt vor Langerweile ...«
»Waren es schöne Bücher?« fragte Lunew.
»Ja–a, sehr schön waren sie! Gedichte hab' ich meistens gelesen – Lermontow, Nekrassow, Puschkin ... Manchmal, wenn ich las, war es mir, als ob ich Milch tränke. Verse gibt's dir, Bruder – wenn du sie liest, ist's, wie wenn die Geliebte dich küßt. Manchmal fährt dir ein Vers übers Herz, daß die Funken sprühen: ganz in Feuer gerätst du ...«
»Und ich habe das Bücherlesen aufgegeben«, sprach Ilja mit einem Seufzer. »Was steht schließlich in den Büchern? Liest du im Buche, so scheinen dir die Dinge so, und siehst du sie in Wirklichkeit, so sind sie ganz anders.«
»Da hast du recht ... Wollen wir irgendwo einkehren? Können da weiterplaudern ... Ich hab' noch einen Gang, aber es hat Zeit ... vielleicht kannst du auch dahin mitkommen ...«
Ilja war mit Paschkas Vorschlag einverstanden und nahm freundschaftlich seinen Arm. Pawel sah ihm noch einmal ins Gesicht und sagte lächelnd:
»Wir waren eigentlich nie recht befreundet, aber ich freu' mich immer, wenn ich dich treffe.«
»Das ist deine Sache«, meinte Ilja ... »Ich seh' dich jedenfalls immer gern ...«
»Ach, Bruder,« sagte Pawel, »ich hatte eben was ganz Besonderes im Sinn, wie du mich einholtest. Aber lassen wir das ...«
Sie gingen in die erste beste Schenke, die sie trafen, setzten sich dort in einen Winkel und bestellten Bier. Beim Licht der Lampe sah Ilja, daß Pawels Gesicht mager und eingefallen war. Seine Augen hatten etwas Unruhiges, und die Lippen, die früher in munterer Spottsucht halb offen gestanden hatten, waren jetzt fest geschlossen.
»Wo arbeitest du denn?« fragte Ilja.
»Wieder in einer Buchdruckerei«, sagte Pawel mißmutig.
»Ist's schwer da?«
»Das nicht ... mehr Spielerei als Arbeit ...«
IIja fühlte eine unbestimmte Genugtuung, als er den sonst so munteren, kecken Paschka traurig und sorgenvoll sah. Er hätte gern erfahren, was Pawel so verändert hatte, und während er Paschkas Glas füllte, begann er ihn auszufragen:
»Und wie steht es mit dem Versemachen?«
»Das hab' ich jetzt sein lassen ... Aber früher hab' ich viel Gedichte gemacht. Ich hab' sie dem Doktor gezeigt – der hat sie gelobt. Eins hat er sogar in einer Zeitung abdrucken lassen ...«
»Oho!« rief Ilja aus. »Was waren denn das für Verse? Sag' sie doch mal her!«
Iljas brennende Neugier und ein paar Gläser Bier brachten Gratschew in Stimmung, seine Augen blitzten, und die gelben Wangen röteten sich.
»Was soll ich dir aufsagen?« sagte er, sich mit der Hand die Stirn reibend. »Ich hab' alles vergessen, bei Gott, ich hab's vergessen! Wart', vielleicht fällt es mir wieder ein ... Ich hab' immer so viel von dem Zeug im Schädel – wie Bienen schwärmen sie darin herum ... summen nur so! Manchmal, wenn ich anfange zu dichten, gerat' ich ganz in Hitze ... Es kocht förmlich in der Seele, und die Tränen kommen dir in die Augen ... Du willst es recht geschickt ausdrücken und findest keine Worte ...« Er seufzte, schüttelte den Kopf und fuhr fort:
»Eh' dir's entschlüpfte, schien's gar wichtig, und schreibst du's nieder, ist's so nichtig ...«
»Sag' doch ein paar von deinen Versen her«, bat ihn Ilja. Je genauer er Pawel anschaute, desto mehr wuchs seine Neugier, und nach und nach gesellte sich zu dieser Neugier ein anderes, gutes, warmes und zugleich wehmütiges Gefühl.
»Ich mache meistens solche lächerlichen Verse ... auf mein eignes Leben«, sagte Gratschew und lächelte befangen. Dann schaute er sich um, hustete und begann mit gedämpfter Stimme zu sprechen, ohne dabei den Freund anzusehen:
»Nacht ist's ... und so traurig! Durchs Fenster herein
Wirft der Mond mir ins Kämmerchen seinen Schein,
Er lächelt und winket gar freundlich mir,
Und bläuliche Muster malt er als Zier
An die steinerne Wand, so feucht und so kalt,
Auf die Tapeten, zerrissen und alt.
Ich sitze in finstrer Gedanken Bann –
Und den Schlaf ich nimmermehr finden kann ...«
Pawel machte eine Pause, seufzte tief auf und fuhr dann langsamer und leiser fort:
»So grausam tat mich das Schicksal packen,
Zerfleischt' mir das Herz, schlug mich rauh in den Nacken,
Entriß mir mein Letztes – mein trautes Lieb,
Und zum Tröste mir nur die Flasche verblieb ...
Da steht sie, mit Branntwein gefüllt, und blinkt
Im Mondenscheine und lächelt und winkt ...