»Haha, ich hab' gemaust! Solche Schlafmützen! Dummköpfe! Teufel!«
Paschkas Raubgelüste hatten alle Kinder empört. Die Kleinen schrien und weinten, während Jakow und Ilja im Hofe hinter dem Dieb herliefen, ohne ihn jedoch fassen zu können. Mit der Zeit hatten sie sich an seine Frechheit gewöhnt, erwarteten von ihm nichts Besseres und vergalten ihm dadurch, daß sie mit ihm böse waren und nicht mit ihm spielten. Paschka lebte für sich und war nur stets darauf bedacht, andern einen Schabernack zu spielen. Der großköpfige Jakow wiederum war zumeist wie ein Kindermädchen um die kraushaarige Tochter des Schusters herum. Sie nahm seine Sorge um ihr Wohlergehen als etwas Selbstverständliches hin, und wenn sie ihn auch immer liebkosend »Jaschetschka« nannte, kratzte und schlug sie ihn doch nicht selten. Jakows Freundschaft mit Ilja wuchs von Tag zu Tag, und er erzählte dem Freunde beständig allerhand sonderbare Träume:
»Da träumte ich heute, daß ich 'ne Masse Geld hätte, lauter Rubel, einen ganzen Sack voll. Und ich trug den Sack auf dem Buckel in den Wald. Mit einemmal – kommen Räuber auf mich zu! Mit Messern, schrecklich anzusehen. Ich rückte natürlich aus. Und plötzlich ist es mir, als ob der Sack lebendig würde ... Ich werf ihn hin, und – hast du nicht gesehen? – fliegen dir allerhand Vögel heraus – pfrrrr! ... Zeisige, Meisen, Stieglitze – eine schreckliche Menge! Sie hoben mich auf und trugen mich durch die Luft – so hoch, so hoch trugen sie mich!«
Er unterbrach seine Erzählung und blickte Ilja mit seinen weit hervorquellenden Augen an, während sein Gesicht einen schafähnlichen Ausdruck annahm ...
»Na – und weiter was?« ermunterte ihn Ilja zum Weitererzählen, da er darauf brannte, das Ende zu hören.
»Na – ich flog also weit weg«, schloß Jakow nachdenklich seinen Bericht.
»Wohin denn?«
»Wohin? Na, so ... ganz weg flog ich!«
»Ach, du«, meinte der enttäuschte Ilja in geringschätzigem Tone. »Du behältst auch gar nichts.«
Aus der Schenke kam Großvater Jeremjej und rief, die Hand an seine Augen haltend:
»Iljuschka! Wo bist du denn? Komm schlafen, es ist Zeit!«
Ilja folgte gehorsam dem Alten und suchte sein Lager auf, das aus einem mit Heu gefüllten Sacke bestand. Prächtig schlief er auf diesem Sacke, trefflich lebte er bei dem alten Lumpensammler, doch nur zu rasch verging dieses angenehme und leichte Leben.
IV
Großvater Jeremjej kaufte für Ilja ein Paar Stiefel, einen großen, schweren Paletot, eine Mütze – und so ausgerüstet schickte man den Jungen in die Schule. Neugierig und ängstlich zugleich ging er dahin – und finster, gekränkt, mit Tränen in den Augen, kam er aus der Schule heim. Die Knaben hatten in ihm den Begleiter des alten Jeremjej erkannt und im Chor zu spotten begonnen:
»Lumpensammler! Stinker!«
Die einen kniffen ihn, andere zeigten ihm die Zunge, und ein besonders Kecker trat auf ihn zu, zog die Luft in die Nase und schrie laut, während er mit einer Grimasse des Abscheus sich von ihm abwandte:
»Wie eklig der Kerl riecht!«
»Warum lachen sie mich aus?« fragte Ilja den Onkel voll Entrüstung und Zweifel. »Ist's denn eine Schande, Lumpen zu sammeln?«
»Nicht doch«, versetzte Terentij, den Kopf seines Neffen streichelnd, während er sein Gesicht vor den forschenden Augen des Knaben zu verbergen suchte. »Das tun sie nur ... einfach so ... aus Ungezogenheit ... Mußt es eben tragen! ... Wirst dich dran gewöhnen ...«
»Auch über meine Stiefel lachen sie, und über den Paletot! ... Fremde Lumpen wären's, sagen sie, aus 'ner Müllgrube hätt' ich sie 'rausgezogen!«
Auch Großvater Jeremjej tröstete ihn, wobei er vergnügt mit den Augen blinzelte:
»Trag's, mein Lieber! Gott wird's ihnen schon vergelten! ... Er! Außer Ihm – gibt es niemand!«
Der Alte sprach von Gott mit einer solchen Freude und solchem Vertrauen auf seine Gerechtigkeit, als ob er ganz genau alle Gedanken Gottes wüßte und in alle seine Absichten eingeweiht wäre. Und Jeremjejs Worte beschwichtigten ein wenig das Gefühl der Kränkung im Herzen des Knaben. Am nächsten Tage jedoch wallte dieses Gefühl von neuem um so heftiger in ihm auf. Ilja hatte sich bereits daran gewöhnt, sich als eine wichtige Person, einen richtigen Arbeiter zu betrachten. Mit ihm sprach sogar der Schmied Ssawel in freundlicher Weise, und diese Schuljungen lachten ihn aus und verspotteten ihn! Er vermochte sich mit dieser Tatsache nicht zu befreunden: die beleidigenden und bitteren Eindrücke der Schule verstärkten sich mit jedem Tage, prägten sich immer tiefer seinem Gemüte ein. Der Schulbesuch wurde für ihn zu einer lästigen Pflicht. Durch sein leichtes Auffassungsvermögen hatte er sogleich die Aufmerksamkeit des Lehrers auf sich gelenkt; der Lehrer hielt ihn den andern als Muster vor, was wieder dazu beitrug, seine Beziehungen zu den Schülern zu verschlechtern. Er saß auf der ersten Bank und fühlte die Anwesenheit der Feinde in seinem Rücken, sie aber hatten ihn nun allezeit vor Augen, wußten geschickt alles herauszufinden, was irgend an ihm lächerlich scheinen konnte, und lachten über ihn. Jakow besuchte dieselbe Schule und war gleichfalls bei seinen Kameraden schlecht angeschrieben. Sie nannten ihn nur den »Kalbskopf«. Er war zerstreut, lernte schwer und wurde fast täglich vom Lehrer gestraft, doch verhielt er sich gleichgültig gegen alle Strafen. Er schien überhaupt alles, was um ihn her vorging, zu übersehen, und in der Schule wie zu Hause in seiner ganz besondren Welt zu leben. Fast jeden Tag setzte er Ilja durch seine seltsamen Fragen in Erstaunen.
»Sag' mal, Ilja – wie kommt's denn, daß die Menschen so kleine Augen haben und doch damit alles sehen? ... Die ganze Straße sieht man, die ganze Stadt – wie kommt's nur, daß sie, die doch so groß ist, in unserm kleinen Auge Platz hat?«
Anfänglich sann Ilja über Jakows seltsame Reden ernsthaft nach, dann aber begannen ihn seine Einfälle zu stören, da sie seine Gedanken von jenen Dingen ablenkten, die ihn zunächst angingen. Und solcher Dinge waren doch gar viele, und der Knabe hatte schon gelernt, recht scharf auf sie zu achten.
Eines Tages kam er aus der Schule nach Hause und sagte mit höhnischem Ausdruck um die Lippen zum alten Jeremjej:
»Unser Lehrer?! Haha! Der ist mir auch schön! ... Gestern hat der Sohn des Kaufmanns Malafjejew eine Fensterscheibe zerschlagen, und er hat ihn dafür nur ganz leicht gescholten. Und heute hat er die Scheibe einsetzen lassen und aus seiner Tasche bezahlt ...«
»Siehst du, was für ein guter Mensch das ist?!« versetzte Jeremjej gerührt.
»Ein guter Mensch, jawohl! Und wie neulich Wanjka Klutscharew eine Scheibe zerschlug, da ließ er ihn ohne Mittagessen nachsitzen, und dann ließ er Wanjkas Vater kommen und sagte ihm: ›Du, zahl' mal für die Scheibe vierzig Kopeken‹ ... Und Wanjka bekam dann Prügel von seinem Vater! ...«
»Mußt auf so was nicht achten, Iljuscha«, sprach der Alte, während er unruhig mit den Augen blinzelte. »Sieh es so an, als ob es dich gar nichts anginge. Zu entscheiden, was unrecht ist, kommt Gott zu und nicht uns. Wir verstehen das nicht. Er aber kennt Maß und Gewicht aller Dinge. Ich zum Beispiel – ich habe gelebt, gelebt, geschaut und geschaut – und wieviel Unrecht ich gesehen habe, vermag niemand zusammenzuzählen. Die Wahrheit aber hab' ich nie geschaut! ... Das achte Jahrzehnt ist nun schon über mich hingegangen ... Es kann doch nicht sein, daß in dieser langen Zeit die Wahrheit nicht ein einziges Mal in meiner Nähe gewesen ist! ... Ich aber hab' sie nicht gesehen ... Kenne sie nicht ...«
»Na,« sprach Ilja zweifelnd, »was ist da viel zu wissen? Wenn der eine vierzig Kopeken zahlen muß, muß es auch der andre: das ist die Wahrheit!«
Der Alte wollte ihm durchaus nicht recht geben. Er sprach noch gar vielerlei von sich selbst, von der Blindheit der Menschen und davon, daß sie nicht imstande seien, einander gerecht zu beurteilen, sondern daß Gottes Urteil allein gerecht sei. Ilja hörte ihn aufmerksam an, doch ward sein Gesicht dabei immer düstrer, und seine Augen schauten immer finstrer.