»Woher wissen Sie, daß sie ihn nicht kennt? Setzen Sie nicht so keck einfach Dinge voraus, Hastings. Es mag sehr wohl zwischen ihnen ein Band bestanden haben, von dem wir nichts ahnen. Wohlgemerkt - das deckt sich nicht vollständig mit meiner Theorie.«
»Sie haben also eine Theorie fertig?«
»Ja. Die Möglichkeit von Carlotta Adams' Mitwirkung faßte ich von erster Stunde an ins Auge.«
»Aber Poirot .«
»Still, Hastings. Lassen Sie mich einige Tatsachen zusammenstellen. Bar jeder Verschwiegenheit, erörtert Lady Edgware unverblümt die Beziehungen zwischen sich und ihrem Gatten und geht sogar so wert, daß sie davon redet, ihn töten zu wollen. Nicht nur Sie und ich haben dies gehört. Ein Kellner hörte es, die Kammerfrau wird es wohl verschiedentlich gehört haben, ferner Martin Bryan und meines Erachtens auch Carlotta Adams. Rechnen Sie nun noch jene hinzu, denen es diese Leute weitergesagt haben. Ferner wurde an jenem Abend darüber gesprochen, wie unübertrefflich Carlotta Adams ihre berühmte Kollegin nachzuahmen verstände. Wer aber hatte Grund, Lord Edgware zu töten? Seine Frau.
Nehmen wir nun einmal an, daß jemand anders Lord Edgware aus dem Weg zu räumen wünschte. Oh, welch herrlichen Sündenbock beschert ihm da das Schicksal! An dem Tag, als Jane Wilkinson verkündet, daß sie wegen einer heftigen Migräne den Abend ungestört für sich verleben wolle, wird der Plan in die Tat umgesetzt.
Lady Edgware muß gesehen werden, wie sie das Haus in Regent Gate betritt. Eh bien, sie wird gesehen. Sie enthüllt sogar dem Butler gegenüber ihre Identität. Ah, c'est un peu trop, 9a! Selbst ein Hammel müßte da Argwohn schöpfen.
Und ein anderer Punkt - zugegeben, ein sehr winziger Punkt.
Die Frau, die gestern abend bei Lord Edgware eindrang, war schwarz gekleidet. Jane Wilkinson aber trägt niemals Schwarz, wie wir aus ihrem eigenen Mund vernommen haben. Wenn nun jene geheimnisvolle Besucherin nicht Jane Wilkinson war, sondern eine Frau, die Jane Wilkinson verkörperte - hat jene Frau dann Lord Edgware getötet?
Oder stahl sich eine dritte Person ins Haus und vollbrachte die Tat? Erschien sie vor oder nach dem Besuch der vermeintlichen Lady Edgware? Erschien sie hinterher - wie erklärte die Frau dann Lord Edgware ihre Gegenwart? Den Butler, der sie nicht genügend kannte, und die Sekretärin, die sie nicht aus nächster Nähe sah, vermochte sie irrezuführen; sie durfte aber wohl kaum hoffen, daß ihr dies auch bei dem Gatten gelingen würde. Oder hat sie etwa in der Bibliothek nur noch eine Leiche angetroffen? Ist Lord Edgware bereits vor ihrer Ankunft getötet worden -etwa zwischen neun und zehn?«
»Halt, Poirot!« schrie ich. »Mir brummt schon der Kopf!«
»Nein, nein, mein Freund. Wir zählen nur die Möglichkeiten her. Das gleicht dem Anprobieren von Kleidern. Paßt dies hier? Nein, es schlägt Falten an der Schulter. Dies vielleicht? Ja, das paßt besser. Wieder ein anderes ist zu kurz. Und so fort - bis wir die genaue Paßform treffen: die Wahrheit.«
»Wem trauen Sie ein solches teuflisches Vorgehen zu?«
»Gemach, mon ami, so schnell läßt sich das nicht sagen. Man muß weiter schürfen, wer wohl ein Interesse an Lord Edgwares Tod hat. Da ist naturgemäß der Neffe, der ihn beerbt. Und trotz Miss Carrolls entschiedener Erklärung muß man auch mit Feinden rechnen. Haben Sie bei unserer Unterredung mit Lord Edgware nicht den Eindruck gewonnen, daß er der Mann ist, der sich sehr leicht Feinde gemacht haben dürfte?«
»Ja, unbedingt.«
»Eins steht jedenfalls fest: daß der Mörder sich sehr sicher gewähnt hat. Bedenken Sie, Hastings, daß Jane Wilkinson ohne ihre Sinnesänderung in allerletzter Minute kein Alibi hätte. Der Beweis, daß sie sich aus ihren Räumen im Savoy-Hotel nicht entfernte, würde schwierig, wenn nicht unmöglich gewesen sein. Man hätte sie verhaftet - und wahrscheinlich gehenkt.«
Mir rann ein eisiger Schauer über den Rücken.
»Aber etwas verursacht mir Kopfzerbrechen«, fuhr mein Freund fort. »Der Wunsch, sie zu belasten, ist klar erkennbar -doch wie steht es mit dem telefonischen Anruf? Warum verlangte sie jemand zu sprechen, der - nachdem er sich über ihre Anwesenheit vergewissert hatte - unverzüglich abhängte? Das geschah gegen halb zehn, mithin vor dem Mord. Der Anruf kann doch nur aus wohlmeinender Absicht erfolgt und nicht von dem Mörder ausgegangen sein, der alle Fäden gesponnen hatte, um Jane zu beschuldigen. Wer also rief an?«
Ich schüttelte den Kopf, aufs äußerste betroffen.
»Vielleicht war es ein bloßer Zufall«, wagte ich einzuwerfen, »ein zufälliges Zusammentreffen.«
»Nein, nein. Alles und jedes kann nicht ein einfaches Zusammentreffen gewesen sein. Sechs Monate zuvor wurde ein Brief unterschlagen. Weshalb?« Er seufzte. »Oh, es sind noch viele Punkte zu klären! Erinnern Sie sich nur jener Geschichte, die Martin Bryan uns erzählte ...«
»Mein lieber Poirot, die hat gewißlich nichts mit diesem Mordfall zu schaffen.« »Sie sind blind, Hastings, blind und vorsätzlich dumm. Sie hat damit zu schaffen, und wenn wir jetzt auch noch im dunkeln tappen, so werden sich uns nach und nach die Zusammenhänge doch entschleiern.«
Ich beneidete ihn um diese Siegeszuversicht, denn ich hatte eher das Gefühl, als verwirrte sich mit jeder Stunde das Ganze mehr. Und in meinem Hirn summte und brummte es.
»Nein, ich halte Carlotta Adams dessen nicht für fähig«, sagte ich unvermittelt.
Noch während ich sprach, erinnerte ich mich jedoch an Poirots Worte über die Liebe zum Geld. Liebe zum Geld . war das die Wurzel, aus der das scheinbar Unbegreifliche emporkeimte? An jenem Abend war Poirot von hellsichtigen Kräften erfüllt gewesen. Er hatte Jane in Gefahr gesehen - die Folge ihrer sonderbar egoistischen Veranlagung. Und er hatte auch gesehen, daß Carlotta vielleicht einmal durch Habsucht vom rechten Weg abgelockt werden könnte.
»Ich glaube nicht, daß sie den Mord beging, Hastings«, hörte ich jetzt neben mir seine Stimme. »Sie ist zu klug und berechnend dazu. Möglicherweise hat man es ihr überhaupt verheimlicht, daß ein Mord geplant wurde. Unwissentlich und unschuldig mag sie als Werkzeug gebraucht worden sein. Aber dann .«
Er brach mitten im Satz ab, runzelte die Stirn.
»Doch auch so ist sie jetzt zur Mitschuldigen geworden. Und heute wird sie die Nachricht aus den Zeitungen erfahren, wird sich vergegenwärtigen .«
Wieder ein unvollständiger Satz. Und nun ein heiserer Schrei.
»Schnell, Hastings. Schnell ...! Ich habe eine Binde vor den Augen gehabt, ich Esel! Ein Taxi! Sofort!«
Ich starrte ihn verständnislos an.
Er winkte stürmisch mit den Armen.
»Ein Taxi! Sofort!«
Da fuhr ein leeres vorüber, und wir sprangen hinein.
»Kennen Sie ihre Adresse?«
»Wessen? Carlotta Adams'?«.
»Mais oui, mais oui. Schnell, Hastings. Jede Sekunde ist wertvoll.«
»Woher soll ich denn ihre Adresse kennen?«
Hercule Poirot stieß einen Fluch aus.
»Das Telefonbuch? Nein, ihr Name wird nicht darin enthalten sein. Also das Theater!«
Aber dort zeigte man sich nicht geneigt, Carlotta Adams' Adresse zu verraten, und es bedurfte Poirots ganzer mit Liebenswürdigkeit gemischter Hartnäckigkeit, damit wir sie erfuhren. Dann jagten wir weiter, nach einem Wohnblock unweit des Sloane Square, Poirot fiebernd vor Ungeduld.
»Wenn ich nur nicht zu spät komme, Hastings. Gerechter Himmel, nur nicht zu spät!«
»Was bedeutet all diese Hast?«
»Sie bedeutet, daß ich mit schneckenhafter Langsamkeit vorgegangen bin und in schafiger Dummheit nicht das Offenkundige erkannte. Ah, mon Dieu, laß mich nur nicht zu spät kommen!«
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Obgleich ich den Grund für Poirots Erregung nicht verstand, kannte ich meinen Freund gut genug, um überzeugt zu sein, daß ein stichhaltiger Grund vorhanden war.