Endlich hielt das Auto vor Rosedew Mansions. Hercule Poirot sprang hinaus, warf dem Chauffeur ein größeres Geldstück zu, ohne sich den Rest wiedergeben zu lassen, und stürzte ins Haus. Carlotta Adams' Wohnung lag im ersten Stock, wie uns eine Visitenkarte, mit einem Reißnagel auf einem Brett befestigt, belehrte. Poirot pochte und klingelte zugleich. Nach einer Weile wurde die Tür von einer älteren Frau geöffnet, die ihr Haar straff aus der Stirn gekämmt trug. Ihre Augenlider waren gerötet, als hätte sie heftig geweint.
»Miss Adams?« stieß mein Freund hervor.
Die Frau sah ihn betreten an.
»Haben Sie denn nicht gehört ...«
»Gehört? Was?«
Sein Gesicht hatte sich mit einer fahlen Blässe überzogen, und ich ahnte, daß das, was er befürchtete, eingetroffen war.
»Sie ist doch tot«, berichtete die Frau, indem sie traurig den Kopf hin und her wiegte. »Im Schlaf in die Ewigkeit hinübergeschlummert. Oh, es ist furchtbar!«
Poirot lehnte sich kraftlos gegen den Türpfosten.
»Zu spät!« Wie ein Hauch klang das Wort.
Die Frau betrachtete ihn mitleidig.
»Entschuldigen Sie, Sir, sind Sie ein Freund von ihr? Ich kann mich nicht entsinnen, Sie schon einmal hier gesehen zu haben?«
Der Kleine umging eine direkte Antwort.
»Haben Sie einen Arzt geholt?« erkundigte er sich. »Was sagt er?«
»Daß sie eine zu große Dosis eines Schlafmittels genommen hat. Oh, welch ein Jammer! Solch eine nette, liebe junge Dame. Ja, man kann nie vorsichtig genug mit diesen giftigen Arzneien sein. Veronal, meint der Doktor, sei es gewesen.«
Plötzlich richtete sich Poirot auf.
»Sie müssen mich hineinlassen«, erklärte er mit Entschiedenheit.
Nichtsdestoweniger zauderte die Wirtin, von Argwohn und Zweifeln gepackt. »Ich weiß nicht .«
Aber Poirot gab nicht nach, und wahrscheinlich schlug er den einzigen Weg ein, der zum Ziel führen mußte.
»Sie müssen mich hineinlassen, weil ich Detektiv bin und Nachforschungen hinsichtlich der Umstände, die Miss Adams' Tod herbeiführten, anstellen will.«
»Mein Gott . «, wisperte die Frau erschreckt und trat zur Seite.
Und von nun an beherrschte Hercule Poirot die Lage.
»Was ich Ihnen gesagt habe, müssen Sie streng vertraulich behandeln«, gebot er. »Sie dürfen es keinem anvertrauen. Jeder soll auch weiterhin glauben, daß Miss Adams einem Unglücksfall zum Opfer fiel. Ich bitte um Namen und Adresse des Arztes, den Sie geholt haben.«
»Dr. Heath, 17 Carlisle Street.«
»Und Ihr eigener Name?«
»Bennett - Alice Bennett.«
»Sie hatten Miss Adams in Ihr Herz geschlossen, wie ich sehe, Miss Bennett?«
»Oh, ja. Sir. Kein Wunder, wo sie so gut und nett war. Ich habe schon vergangenes Jahr, als sie in London auftrat, für sie gesorgt. Sie war eine echte Dame - kein Leichtsinn, keine Kapricen wie bei anderen Schauspielerinnen.«
Hercule Poirot lauschte voll Aufmerksamkeit und Mitgefühl, ohne das geringste Zeichen von Ungeduld. Wahrscheinlich vergegenwärtigte sich der große Menschenkenner, daß Freundlichkeit das beste Mittel sei, um die Auskünfte, die er benötigte, zu bekommen.
»Arme Miss Bennett - Sie müssen sich ja entsetzlich aufgeregt haben!« bemerkte er sanft.
»Ja, Sir. Ich brachte ihr wie gewöhnlich um halb zehn Uhr den Tee hinein, und sie lag, wie ich meinte, im festen Schlaf. Da setzte ich das Tablett nieder und ging zum Fenster, um die Vorhänge zurückzuziehen. Einer der Ringe verfing sich, Sir, so daß ich scharf zu reißen und zu zerren hatte. Es verursachte einen ziemlichen Lärm, und als ich mich umwandte, wunderte ich mich, daß sie nicht davon erwacht war. Und dann, Sir, packte mich jählings eine heiße Angst. Irgendwie erschien mir ihre Lage im Bett unnatürlich. Ich ging hin zu ihr, berührte ihre Hand. Eisig kalt war sie, Sir. Und vor Grauen habe ich laut geschrieen.« Sie machte eine Pause, um die Tränen abzuwischen.
»Ja, ja, Sie Arme, ich kann mir Ihren Schreck vorstellen. Nahm Miss Adams öfters Schlafmittel?«
»Hin und wieder nahm sie etwas gegen Kopfschmerzen, Sir. Kleine Tabletten aus einer Flasche. Aber der Doktor sagt, daß sie gestern abend ein anderes Mittel geschluckt hat.«
»So. War gestern abend ein Besucher bei ihr?«
»Nein. Sie ging ja gestern gegen sieben Uhr fort.«
»Und wohin?«
»Das weiß ich nicht.«
»Wie war sie gekleidet, Miss Bennett?«
»Sie trug ein schwarzes Kleid und einen schwarzen Hut.«
Poirot warf mir einen vielsagenden Blick zu.
»Und irgendwelchen Schmuck?«
»Nur die Perlenschnur, die sie immer trägt, Sir.«
»Und graue Handschuhe?«
»Ja, graue, Sir.«
»Ah! Nun beschreiben Sie mir bitte, in welcher Stimmung sie sich befand. War sie froh? Aufgeregt? Traurig? Nervös?«
»Mir scheint es, als ob sie sich über etwas freute. Sie lächelte so stillvergnügt wie über einen Scherz.«
»Wann kehrte sie heim?«
»Kurz nach zwölf, Sir.«
»Und in derselben frohen Stimmung?«
»Sie war furchtbar müde, Sir.«
»Aber nicht angegriffen? Oder betrübt?«
»Nein, nein, Sir. Nur todmüde. Sie ging auch noch zum Telefon, um jemanden anzurufen, doch da der Teilnehmer sich nicht sofort meldete, legte sie mit der Bemerkung, ihre Müdigkeit sei zu groß, sie wolle das Gespräch lieber auf morgen verschieben, gähnend den Hörer nieder.«
»Ah, das ist wichtig!« Poirots Augen glühten vor Erregung. Er lehnte sich weit nach vorn und fragte mit gewollt gleichgültiger Stimme: »Erinnern Sie sich der Nummer, Miss Bennett?«
»Tut mir leid, Sir. Es war eine Nummer des Amtes Victoria mehr weiß ich nicht. Ich habe nicht achtgegeben, verstehen Sie.«
»Hat sie irgend etwas gegessen oder getrunken, bevor sie zu Bett ging?«
»Wie alltäglich ein Glas heiße Milch.«
»Wer bereitete es ihr?«
»Ich, Sir.« »Und niemand betrat sonst die Wohnung?«
»Niemand, Sir.«
»Auch im Laufe des Tages nicht?«
»Nein, auch im Laufe des Tages nicht. Miss Adams nahm den Lunch in der Stadt ein und kam erst um sechs Uhr wieder.«
»Wann brachte man die Milch?«
»Die Milch, die sie abends trank? Sie stammte von der Nachmittagslieferung, Sir. Der Junge stellte sie um vier Uhr vor die Tür. Aber dafür lege ich meine Hand ins Feuer, daß die Milch nicht verdorben oder mit einem Gift vermischt war, denn ich habe heute früh einen Schuß in meinen Tee geschüttet. Und außerdem sagte der Doktor ausdrücklich, daß Miss Adams das gefährliche Zeug selbst eingenommen habe.«
»Ich will mich mit dem Doktor in Verbindung setzen, Miss Bennett. Vielleicht befinde ich mich auf einer falschen Fährte. Aber sehen Sie, Miss Adams hatte Feinde. In Amerika liegen die Dinge anders als bei uns ...«
Er zögerte, doch die gute Alice biß eiligst an dem hingeworfenen Köder an.
»Oh, das weiß ich, Sir. Von Chicago und der dortigen Verbrecherwelt habe ich gelesen. Es muß ein gottloses Land sein und die dortige Polizei keinen Pfifferling wert. Nicht zu vergleichen mit der unsrigen!«
Poirot widersprach diesem Werturteil nicht, da er sich sagte, daß Alice Bennetts insularer Stolz ihn der Sorge weiterer Erklärungen enthob. Sein Blick fiel auf ein kleines Stadt-köfferchen, das auf einem Stuhl lag.
»Hatte Miss Adams es bei sich, als sie gestern abend fortging?«
»Morgens nahm sie es mit, Sir. Zum Nachmittagstee kam sie ohne den Koffer zurück, aber nachts brachte sie ihn wieder mit.«
»Gestatten Sie, daß ich ihn öffne?«
Alles würde Alice Bennett gestattet haben. Wie die meisten vorsichtigen und argwöhnischen Frauen war sie weiches Wachs, sobald sich ihr Mißtrauen gelegt hatte.