Das Köfferchen war nicht verschlossen. Neugierig ging ich näher heran und spähte über Poirots Schulter.
»Sehen Sie, Hastings?« murmelte er, fast heiser vor Erregung.
Der Inhalt freilich rechtfertigte sie.
Da drinnen lag eine Schachtel mit Schminkmaterial, ferner zwei seltsame Gegenstände, die ich als Schuheinlagen erkannte, bestimmt, den Wuchs ihres Trägers um einen Zoll oder mehr zu erhöhen. Da lagen ein Paar graue Handschuhe und - in Seidenpapier eingehüllt - eine hervorragend gearbeitete goldhaarige Perücke, in demselben Goldton wie Jane Wilkinsons Haar und genau wie dieses in der Mitte gescheitelt und im Nacken zu Löckchen geordnet.
»Zweifeln Sie noch, Hastings?«
Nein, ich zweifelte nicht länger .
Poirot schloß den Deckel und wandte sich an die Frau.
»Wissen Sie, mit wem Miss Adams gestern abend speiste?«
»Nein, Sir.«
»Oder mit wem sie den Lunch einnahm?«
»Ich glaube mit Miss Driver.«
»Miss Driver?«
»Ja, ihre beste Freundin. Sie hat einen Hutsalon in Moffat Street, die von Bond Street abzweigt. Genevieve ist der Firmenname.«
Mein Freund vermerkte die Adresse in seinem Notizbuch, gleich unter dem Namen und der Wohnung des Arztes.
»Nun noch eins, Miss Bennett, und ich flehe Sie an, gut nachzudenken: Erinnern Sie sich an irgend etwas - was es auch sei -, das Miss Adams bei ihrer Heimkehr um sechs sagte oder tat und das von ihren gewöhnlichen Gepflogenheiten abwich?«
Die Frau dachte angestrengt nach.
»Nein, Sir«, erwiderte sie endlich. »Als sie heimkehrte, setzte sie sich an den Schreibtisch und schrieb Briefe.«
»Briefe, eh .? Wissen Sie, an wen?«
»Ja, Sir. Es war nur ein einziger Brief - an ihre Schwester in Washington, der sie regelmäßig zweimal wöchentlich schrieb. Miss Adams nahm ihn mit sich, damit er den Dampfer noch erreichen sollte, aber sie vergaß, ihn zu befördern.«
»Dann ist er noch hier?«
»Nein, Sir. Gerade als sie gestern nacht ins Bett schlüpfte, erinnerte sie sich seiner. Ich erbot mich, mit ihm hinunterzulaufen und ihn zum Postamt zu bringen.«
»Ah . liegt das weit fort?«
»Im Gegenteil, ganz nah. Nur um die Ecke herum.«
»Hatten Sie die Wohnungstür hinter sich abgeschlossen?«
Alice Bennett sah meinen Freund verblüfft an.
»Abgeschlossen? Für den kurzen Sprung zur Post? Aber nein, Sir! Ich schließe niemals ab, wenn ich zur Post laufe.«
Poirot schien noch etwas fragen zu wollen, doch dann zähmte er seine Wißbegier.
»Wollen die Herren sie nicht ansehen?« schlug die Frau weinend vor. »Sie sieht so schön, so friedlich aus.«
Wir folgten ihr bereitwillig ins Schlafzimmer.
Der Tod hatte Carlotta Adams um Jahre verjüngt; sie glich eher einem müden Kind, das vom Schlaf überrascht worden ist, als jener Frau, der wir im Savoy begegnet waren.
Ein feierlicher Ernst breitete sich über Poirots Gesicht, als er auf die leblose Gestalt hinabschaute, und ich gewahrte, wie er das Kreuzzeichen schlug.
»Ich habe ein Gelübde getan, Hastings«, sagte er, während wir die Treppen hinabstiegen. Und ein paar Minuten später fügte er hinzu: »Von einer Last ist mein Gewissen wenigstens befreit worden: Ich hätte sie nicht retten können. Zu der Stunde, als ich die Kunde von Lord Edgwares Ermordung erhielt, war sie bereits tot. Das tröstet mich. Ja, das tröstet mich sogar sehr.«
10
Unser nächster Gang galt dem Arzt, dessen Adresse uns Miss Bennett gegeben hatte.
Es trat uns ein geschäftiger älterer Mann entgegen, der Hercule Poirot dem Namen nach kannte und seinem lebhaften Vergnügen Ausdruck verlieh, ihn in Fleisch und Blut vor sich zu sehen.
»Und womit kann ich Ihnen dienen, Monsieur Poirot?« erkundigte er sich nach dieser schmeichelhaften Einleitung.
»Sie wurden heute morgen zu Miss Carlotta Adams gerufen.«
»Ah, ja. Das arme Kind! Und eine begabte Künstlerin außerdem. Ich habe zwei ihrer Vorstellungen besucht und muß sagen, daß es ein Jammer ist, wie sie endete. Warum diese Mädels immer auf irgendwelche Gifte verfallen, ist mir unverständlich.«
»Sie meinen also, daß sie dem Rauschgiftlaster huldigte?«
»Tja, Monsieur Poirot, das ist eine Gewissensfrage. Als Fachmann kann ich Ihnen das eine versichern, daß sie keine Spritze gebrauchte, denn trotz genauester Untersuchung fand ich am ganzen Körper nicht einen einzigen Einstichpunkt. Doch sie mag sich die Gifte ja immer durch den Mund zugeführt haben. Die Frau sagte mir zwar, daß Miss Adams von Natur aus einen gesunden Schlaf habe, aber darf man auf die Aussage von Angestellten bauen ...? Ich selbst bin allerdings auch nicht der Ansicht, daß sie jede Nacht Veronal nahm, wenngleich sie es offenbar geraume Zeit genommen hat.«
»Woraus schließen Sie das?«
»Hieraus . verdammt, wo habe ich das Ding hingetan?« Er wühlte in einem kleinen Kasten, der wahrscheinlich ärztliche Instrumente enthielt, und förderte endlich ein Handtäschchen aus schwarzem Saffianleder ans Tageslicht.
»Da ich vermutete, daß eine Untersuchung eingeleitet werden wird, nahm ich es an mich, damit die Angestellte es nicht mit vorwitzigen Fingern durchkramt.«
Während dieser Erklärung holte er aus dem Täschchen eine zierliche Golddose hervor, die in Rubin die Initialen C. A. trug. Ein kostbares Luxusstück! Der Doktor ließ den Deckel aufspringen, so daß der Inhalt sichtbar wurde.
»Veronal«, erläuterte er kurz, auf das weiße Pulver weisend. »Nun lesen Sie, was hier geschrieben steht.«
Und auf der Innenseite des Deckels war eingraviert:
C. A. von D. Paris, 10. November. Süße Träume
»10. November«, wiederholte Poirot nachdenklich.
»Jawohl, und jetzt schreiben wir Juni. Das deutet darauf hin, daß sie sechs Monate dies schauderhafte Zeug geschluckt hat, und da die Jahreszahl fehlt, können es gut und gern auch achtzehn Monate oder zwei und ein halbes Jahr oder noch mehr gewesen sein.«
»Paris . D«, murmelte mein Freund.
»Ja. Sagt Ihnen das was? Übrigens habe ich Sie gar nicht gefragt, welches Interesse Sie an dem Fall nehmen, Monsieur Poirot. Möchten Sie wissen, ob Selbstmord vorliegt ...? Nun, ich vermag es Ihnen nicht zu verraten. Niemand vermag es. Wenn wir der Frau Glauben schenken, so war Miss Adams gestern sehr lustig aufgelegt. Das läßt auf einen Unfall schließen. Und nach meiner persönlichen Überzeugung ist es auch ein Unfall gewesen. Veronal ist ein höchst unzuverlässiges Mittel. Sie können einen Haufen davon verspeisen, ohne daß es Sie tötet, und andererseits wieder genügt eine winzige Menge, damit Sie zu Ihren Vätern versammelt werden. Darin liegt eben auch seine besondere Gefährlichkeit .«
»Darf ich mir das Täschchen Mademoiselles näher ansehen?«
»Gewiß, gewiß.«
Poirot schüttete den Inhalt auf die Tischplatte: ein feines Leinentaschentuch mit den Buchstaben C. M. A. in einer Ecke, eine Puderquaste, ein Lippenstift, eine Pfundnote und etwas Wechselgeld, dazu ein Kneifer.
Diesem letzteren widmete Hercule Poirot besondere Sorgfalt.
Mit seiner goldenen Fassung und dem hohen geschwungenen Goldbügel wirkte er ein wenig altmodisch.
»Seltsam! Ich wußte nicht, daß Miss Adams ein Augenglas trug«, wunderte sich mein Freund. »Vielleicht nur zum Lesen?«
Der Doktor nahm ihm den Kneifer aus der Hand.
»Nein, die Gläser sind im Gegenteil für draußen bestimmt, und ziemlich scharf sind sie obendrein. Die Person, der sie gehören, muß sehr kurzsichtig sein.«
»Ist Ihnen bekannt, ob Miss Adams .«
»Ich habe sie nie vorher behandelt, Monsieur Poirot; nur einmal wurde ich wegen eines Fingergeschwürs der Angestellten gerufen. Bei dieser Gelegenheit bekam ich Miss Adams kurz zu Gesicht, und ich erinnere mich, daß sie damals kein Augenglas trug.«
Poirot dankte dem Doktor, und wir brachen auf.