Ich sah, wie mein Freund nervös an seiner Unterlippe nagte.
»Sollte ich mich also geirrt haben?« murmelte er.
»In bezug auf den Verkleidungsbetrug?«
»Non, non, mon cher. Den müssen wir als bewiesen betrachten. Ich meinte in bezug auf ihren Tod. Jetzt, da ich weiß, daß sie über Veronal verfügte, darf ich nicht die Möglichkeit bestreiten, daß sie gestern abend nervös und übermüdet war und Sehnsucht verspürte, den stärkenden Schlaf sicher und schnell herbeizuzaubern.«
Dann blieb er plötzlich wie angewurzelt stehen - zur großen Überraschung der Vorübergehenden - und schlug heftig mit der einen Hand auf die andere.
»Nein, nein und abermals nein! Warum sollte sich dieser Unfall zu solch gelegener Stunde ereignen? Es war kein Unfall. Und es war auch kein Selbstmord. Nein, als sie ihre Rolle spielte, unterzeichnete sie gleichzeitig ihr Todesurteil. Dem Veronal hat man einfach deshalb den Vorzug gegeben, weil bekannt war, daß sie es gelegentlich nahm und daß sie jene Golddose besaß. Aber dann muß der Mörder über ihre Gewohnheiten sehr unterrichtet gewesen sein. Wer ist D., Hastings? Sagen Sie mir, wer ist D.?«
»Poirot«, mahnte ich, als er noch immer wie eine Bildsäule auf demselben Fleck verharrte, »wollen wir nicht lieber weitergehen? Überall starren schon neugierige Augen.«
»Eh? Ach so, weitergehen - nun meinetwegen, obwohl es mich nicht im mindesten belästigt, wenn die Leute starren. Es beeinträchtigt auch meine Gedankenarbeit nicht.«
»Poirot, man beginnt schon zu lächeln.«
»Was tut's?«
Ich stimmte hierin nicht mit ihm überein. Von jeher habe ich einen Abscheu davor gehabt aufzufallen. Aber das einzige, was Poirot aus dem Gleichgewicht wirft, ist die Möglichkeit, daß sein berühmter Schnurrbart leiden könne.
»Wir wollen ein Taxi nehmen«, raffte mein Freund sich endlich auf. Und gleich darauf gab er einem Chauffeur Anweisung, uns in die Moffat Street zu fahren.
Der Hutsalon Genevieve gehörte zu jenen gewerblichen Unternehmungen, bei denen ein Glaskasten neben der Haustür einen unauffälligen Hut und einen Schal zeigt, während der eigentliche Betrieb im ersten Stock liegt, zu dem man auf einer muffigen Treppe emporklimmt.
Als auch wir die ausgetretenen Stufen hochgestiegen waren, befanden wir uns vor einer Tür mit der Aufschrift »Genevieve« und der Aufforderung »Herein, ohne anzuklopfen«, welche Weisung wir befolgten. Hierauf standen wir in einem mit Hüten gefüllten kleinen Raum, bis ein stattliches blondes Geschöpf uns nach unserem Begehr fragte.
»Miss Driver?«
»Ich weiß nicht, ob Madame Sie empfangen kann. Worum handelt es sich bitte?«
»Sagen Sie Miss Driver, daß ein Freund von Miss Adams sie sprechen möchte.«
Aber die blonde Schönheit brauchte diesen Auftrag nicht auszuführen, weil ein schwarzer Samtvorhang in heftige Schwingungen geriet und eine quecksilbrige Dame mit flammendrotem Haar hinter ihm hervorschoß.
»Was höre ich da?«
»Habe ich die Ehre, Miss Driver vor mir zu sehen?«
»Ja. Was ist mit Carlotta?«
»Sie wissen von dem traurigen Vorfall noch nichts?«
»Trauriger Vorfall? Nun sprechen Sie doch endlich!«
»Miss Adams schlief infolge einer Überdosis Veronal gestern nacht für immer ein.«
»Wie ...?« Das junge Mädchen riß entsetzt die Augen auf. »Tot? Carlotta tot, die noch gestern abend so voller Leben war?«
»Es schmerzt mich, daß ich der Überbringer einer solchen Schreckensbotschaft sein muß, Mademoiselle«, entgegnete Poirot. »Sehen Sie, es ist gerade ein Uhr. Wollen Sie mir und meinem Freund das Vergnügen bereiten, mit uns zu lunchen? Ich möchte Ihnen nämlich verschiedene Fragen vorlegen.«
Die junge Dame betrachtete ihn prüfend vom Scheitel bis zu Sohle. Sie war sicher ein kampflustiges kleines Wesen, und irgendwie erinnerte sie mich an einen aufgeweckten Foxterrier.
»Wer sind Sie denn eigentlich?« fragte sie unverblümt.
»Mein Name ist Hercule Poirot, und dies ist mein Freund Hauptmann Hastings.«
Ich verbeugte mich.
Ihre Blicke wanderten zwischen uns beiden hin und her.
»Ich habe von Ihnen gehört. Gut, ich werde mitkommen.« Dann rief sie der Blonden zu: »Dorothy, Mrs. Lester beabsichtigt, wegen des Rose-Descartes-Modellhutes, den wir für sie arbeiten, vorzusprechen. Bitte, probieren Sie die verschiedenen Federn aus. Auf Wiedersehen, auf Wiedersehen. Ich bleibe nicht allzulange fort.«
Sie riß einen kleinen schwarzen Hut vom Ständer, drückte ihn sich schief auf das eine Ohr, puderte wütend ihre Nase und blickte dann Poirot an.
»Fertig!«
Fünf Minuten später saßen wir in einem ruhigen Restaurant in Dover Street, und jeder von uns hatte einen Cocktail vor sich.
»So, und nun heraus mit der Sprache«, sagte Jenny Driver. »Worin hat sich Carlotta verwickeln lassen?«
»Sie hat sich also in etwas verwickeln lassen, Mademoiselle?«
»Wer fragt hier nun eigentlich, Sie oder ich, Monsieur Poirot?«
»Wenn es Ihnen recht ist - ich, Mademoiselle«, gab mein Freund lächelnd zur Antwort. »Nicht wahr, es verband Sie mit Miss Adams eine enge Freundschaft?«
»Richtig.«
»Eh bien, dann bitte ich Sie, Mademoiselle, meine feierliche Versicherung hinzunehmen, daß alles, was ich tue, im Interesse Ihrer toten Freundin geschieht. Glauben Sie mir das?«
Pause. Jenny Driver spielte mit dem Fuß ihres Glases.
»Ja, ich glaube Ihnen«, erklärte sie endlich. »Weiter. Was wollen Sie von mir wissen?«
»Stimmt es, daß Ihre Freundin gestern mit Ihnen lunchte?«
»Ja.« »Sprach sie von ihren Plänen für gestern abend?«
»Um ganz genau zu sein, Monsieur Poirot: Sie erwähnte nicht ausdrücklich gestern abend. Allerdings erwähnte sie etwas, das möglicherweise das ist, nach dem Sie fahnden. Aber bedenken Sie wohl - sie sprach zu mir vertraulich.«
»Selbstverständlich.«
»Stört es Sie, wenn ich dem Sachverhalt meine eigene Fassung gebe?«
»Durchaus nicht, Mademoiselle.«
»Also gut! Carlotta war erregt, was bei ihr nicht häufig vorkommt. Sie weigerte sich, mir frisch von der Leber weg alles zu erzählen, verschanzte sich hinter Versprechungen, die sie gegeben hätte, ließ jedoch durchblicken, daß sie etwas im Schilde führe einen ungeheuren Possenstreich.«
»Einen Possenstreich?«
»Ja, darauf lief es hinaus, wenn sie auch nicht das Wort selbst gebrauchte. Auch über das Wie, Wann oder Wo schwieg sie. Nur ...« Sie zögerte, starrte, die Stirn gerunzelt, ins Leere. »Sehen Sie, Monsieur Poirot, Carlotta eignete sich ihrer ganzen Veranlagung nach nicht zu Schabernack und Possenstreichen; sie ist ein ernsthaftes, schwerblütiges und hart arbeitendes Mädchen gewesen. Und daher bin ich der Meinung, daß jemand sie zu dem Ganzen aufgestachelt hat. Ich glaube - beachten Sie bitte, daß sie mir das keineswegs sagte .«
»Nein, nein, ich verstehe vollkommen, Mademoiselle. Was glauben Sie?«
»Ich glaube - nein, ich bin sicher, daß irgendwie Geld dabei im Spiele war. Geld, und nur Geld allein vermochte Carlotta ihrer kühlen Ruhe zu berauben. Es muß sich schon um eine erkleckliche Summe gehandelt haben, und ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß man sie auf eine Wette festgelegt hat - eine Wette, die sie sicher war zu gewinnen. Nein, nein, so stimmt es auch nicht ganz. Ich meine, Carlotta wettete nicht. Wenigstens habe ich sie in der ganzen Zeit unserer Freundschaft noch nie bei einer Wette getroffen. Aber wie es auch sei: um Geld muß es sich gedreht haben.«
»Sie sagte es aber nicht eindeutig, wie?«
»N - nein. Freilich sagte sie, daß sie sich sehr bald dies und jenes werde leisten können. Sie wollte zum Beispiel ihre Schwester aus Amerika kommen lassen und sich mit ihr in Paris treffen. Ach, sie war ja rein vernarrt in ihre kleine Schwester -ein sehr zartes, aber sehr musikalisches Dingelchen, soviel ich weiß. Genügt Ihnen das, Monsieur Poirot? Ich wäre nämlich nicht imstande, Ihnen sonst noch etwas zu erzählen.«