Выбрать главу

Dann wurde ich mir plötzlich bewußt, daß es Carlotta Adams war. Der elegante Mann - ein Fremder für mich - hatte ein fröhliches, doch ziemlich nichtssagendes Gesicht: ein Menschentyp, den ich nicht mag.

Carlotta Adams trug ein schwarzes, sehr unauffälliges Kleid. Auch ihren Zügen schenkte man nicht sofort Beachtung. Ihr bewegliches, empfindsames Antlitz, das sich so hervorragend für die Kunst der Mimik eignete, konnte leicht irgendeinen beliebigen fremden Charakter annehmen, doch fehlte ihm ein sofort erkennbarer eigener Zug.

Ich teilte meine Überlegungen Poirot mit, der, den eiförmigen Kopf leicht zur Seite geneigt, mir aufmerksam lauschte und dabei die beiden Tische mit einem scharfen Blick überflog.

»So, das ist Lady Edgware? Ja, ich entsinne mich - habe sie einmal auf der Bühne gesehen. Sie ist une belle femme.«

»Und obendrein eine tüchtige Schauspielerin.«

»Möglich.«

»Das klingt, als seien Sie nicht davon überzeugt, Poirot.«

»Es hängt meines Erachtens von der Anordnung ab, mein Freund. Wenn sie der Mittelpunkt des Stückes ist, wenn sich alles um sie dreht - ja, dann kann sie ihre Rolle spielen. Ich bezweifle jedoch, ob sie einer kleineren Rolle im gleichen Maße gerecht wird oder ob sie überhaupt das spielen kann, was man eine Charakterrolle nennt. Das Stück muß um sie und für sie geschrieben sein. Ich halte sie für den Frauentyp, der nur Interesse für sich selbst aufbringt.« Er schaltete eine Pause ein, um ganz unerwartet hinzuzufügen: »Derartige Menschen laufen im Leben große Gefahr.«

»Gefahr?« wiederholte ich erstaunt.

»Ich habe ein Wort gebraucht, das Sie überrascht, mon ami. Gefahr, ja. Weil eine solche Frau nur eins sieht - sich selbst. Nichts sieht sie von den Gefahren und Zufällen, von denen sie umgeben ist - die Million widerstreitender Interessen und Beziehungen des Daseins. Und deshalb früher oder später, Unheil.«

Das Ungewöhnliche dieses Gedankengangs fesselte mich um so mehr, als mir selbst ein solcher Einfall nie gekommen wäre.

»Und die andere?« begehrte ich zu wissen.

»Miss Adams?« Wieder streifte Poirots Blick den Tisch der jungen Amerikanerin. »Nun, was wünschen Sie über sie zu hören?« lächelte er dann.

»Nur, welchen Eindruck sie auf Sie macht.«

»Mon cher, bin ich heute abend vielleicht ein Wahrsager, der in der Handfläche liest und den Charakter deutet?«

»Wer verstände das wohl besser als Sie!«

»Nett, daß Sie mir so viel zutrauen, Hastings. Es rührt mich tief. Wissen Sie nicht, mein Freund, daß jeder einzelne von uns ein dunkles Geheimnis ist? Ein Sammelsurium von sich widersprechenden Leidenschaften und Begierden und Nei-gungen? Mais oui, c'est vrai. Da fällt man so ein kleines Urteil, aber neunmal von zehn trifft man daneben.«

»Nicht, wenn man Hercule Poirot heißt.«

»Ja, sogar Hercule Poirot! Oh, Sie meinen immer, ich sei eitel und eingebildet. Falsch, Hastings. Ich versichere Ihnen, daß ich in Wahrheit ein sehr bescheidener Mensch bin.«

»Sie - bescheiden!« lachte ich.

»Aber wirklich. Ausgenommen natürlich, daß ich - wozu es leugnen? - ein wenig stolz auf meinen Schnurrbart bin. Nirgendwo in London habe ich einen Bart gesehen, der sich mit meinem messen kann.«

»Das glaube ich gern«, sagte ich trocken. »Aber wollen wir nicht lieber von Carlotta Adams sprechen? Ihr Urteil über sie, Poirot.«

»Sie ist Künstlerin durch und durch«, erklärte er schlicht. »Deckt das nicht alles?«

»Mithin geht sie gefahrlos durchs Leben, wie?«

»So einfach liegen die Dinge nicht«, verwies mich Poirot ernst. »Auf uns alle kann unversehens Unglück herabstürzen. Aber was Ihre Frage betrifft, so glaube ich, daß Miss Adams Erfolg beschieden sein wird. Sie ist schlau und noch etwas mehr. Zweifellos haben Sie bemerkt, daß sie Jüdin ist?«

Bisher hatte ich es zwar nicht bemerkt, aber nun, da mein Freund es erwähnte, sah ich auch die schwachen Spuren semitischer Vorfahren.

»Und da wir von Gefahren sprechen, so könnte für sie die Liebe zum Geld gefährlich werden. Liebe zum Geld lenkt solch einen Menschen oft von dem klugen und vorsichtigen Pfad ab.«

»Geld lenkt uns alle leicht ab.«

»Richtig, Hastings. Sie jedoch oder ich würden die Gefahr sehen; wir könnten das Für und Wider abwägen. Wenn Sie sich aber zuviel aus dem Geld machen, so sehen Sie nur das Geld -alles übrige bleibt in Schatten gehüllt.«

Sein tiefer Ernst reizte mich zum Lachen.

»Esmeralda, die Zigeunerkönigin, ist heute in guter Form«, hänselte ich.

»Psychologie ist ein ungemein fesselndes Gebiet«, gab Poirot unbewegt zur Antwort. »Man kann sich nicht mit Verbrechen befassen, ohne sich auch gleichzeitig mit Psychologie zu beschäftigen. Nicht um die eigentliche Mordtat, sondern um das, was hinter ihr liegt, geht es dem Sachverständigen. Verstehen Sie mich, Hastings?«

Ich versicherte ihm, daß ich ihn voll und ganz verstünde.

»Sooft wir nämlich einen Fall zusammen bearbeiten, habe ich stets die Wahrnehmung gemacht, daß Sie mich zu physischer Tätigkeit anstacheln. Ich soll Fußspuren messen, ich soll Zigarettenasche analysieren, ja, mich sogar auf den Bauch legen, um irgendeine Einzelheit zu prüfen. Sie vermögen sich einfach nicht vorzustellen, Hastings, daß man der Lösung eines Rätsels näherkommen kann, wenn man sich mit geschlossenen Augen in einen Lehnsessel zurücklehnt. Dann sieht man mit den Augen des Geistes.«

»Ich nicht, Poirot. Wenn ich mich mit geschlossenen Augen in einen Sessel zurücklege, passiert mir unweigerlich nur eins!«

»Das habe ich bemerkt, mon cher. Seltsam! In solchen Momenten müßte Ihr Hirn doch fieberhaft arbeiten und nicht in faulenzerhafte Ruhe versinken. Wie anregend ist diese Gehirntätigkeit! Das Benutzen der kleinen grauen Zellen ist geistiger Genuß. Ihnen und ihnen allein darf man sich anvertrauen, wenn man durch dichten Nebel zur Wahrheit gelangen will ...«

Ich fürchte, daß ich die Gewohnheit angenommen habe, meine Aufmerksamkeit auf andere Dinge zu richten, sobald Poirot seiner kleinen grauen Zellen Erwähnung tut. Ist das verwunderlich, da ich das alles schon so häufig habe hören müssen .?

Diesmal flüchtete sich meine Aufmerksamkeit zu den vier Personen, die am Nachbartisch saßen. Und als Hercule Poirots Selbstgespräch endlich zu einem Ende gelangte, warf ich schmunzelnd hin:

»Sie haben eine Eroberung gemacht. Die blonde Lady Edgware läßt Sie kaum aus den Augen.«

»Fraglos hat man sie darüber aufgeklärt, wer ich bin«, sagte mein Freund, mit dem Versuch, sich ein bescheidenes Aussehen zu geben, was ihm gründlich mißlang.

»Ich meine, es gilt Ihrem berühmten Schnurrbart. Seine Schönheit hat sie berauscht.«

»Spötter!« Er streichelte ihn verstohlen. »Oh, diese Zahnbürste, die Sie tragen, Hastings, ist abscheulich - ist eine Grausamkeit, ein willkürliches Verkümmern der Gaben der Natur. Bekehren Sie sich zu einer besseren Einsicht - ich flehe Sie an.«

»Weiß Gott, Lady Edgware ist aufgestanden und will anscheinend mit uns sprechen«, sagte ich, ohne auf Poirots Beschwörung zu achten. »Martin Bryan macht offenbar den Versuch, sie zurückzuhalten, aber sie hört nicht auf ihn.«

Tatsächlich kam Jane Wilkinson jetzt mit raschem Schritt zu uns herüber. Poirot hatte sich erhoben, verbeugte sich, und ich tat dasselbe.

»Monsieur Hercule Poirot, nicht wahr?« sagte die weiche, heisere Stimme.

»Zu Ihren Diensten.«

»Monsieur Poirot, ich muß mit Ihnen sprechen.«

»Bitte, Madame, wollen Sie nicht Platz nehmen?«

»Nein, nein, nicht hier. Privat muß ich Sie sprechen. Wir wollen hinauf in mein Appartement gehen.«

Inzwischen war auch Martin Bryan ihr gefolgt, der nun mit mißbilligendem Lachen das Wort ergriff.

»Sie müssen sich ein wenig gedulden, Jane. Wir sowohl als auch Mr. Poirot haben gerade angefangen zu essen.«

Aber eine Jane Wilkinson ließ sich nicht so leicht von etwas abbringen.