»Was geht das mich an .? In vier oder fünf Monaten können der Herzog und ich getraut werden .«
Mit Mühe nur bewahrte mein Freund seine Selbstbeherrschung.
»Das weiß ich, Madame. Aber davon abgesehen: Haben Sie sich nie die Frage vorgelegt, durch wessen Hand Ihr Gatte starb?«
»Nein.« Sie blickte nachdenklich auf den Hut in ihrer Hand, ganz überrascht durch Poirots Zumutung. »Nein, wirklich nicht.«
»Interessiert es Sie denn nicht, es zu erfahren?«
»Ehrlich gestanden, nicht allzusehr. Vermutlich wird die Polizei den Täter über kurz oder lang erwischen; sie soll ja sehr findig sein.«
»Auch ich werde meinen Ehrgeiz daran setzen, findig zu sein, Madame.«
»Sie auch? Wie drollig!«
»Warum drollig?«
»Gott ... ich weiß eigentlich nicht.« Ihre Augen wanderten zu den Kleidern zurück. Dann griff sie nach einem seidenen Mantel, streifte ihn über und musterte sich im Spiegel.
»Sie haben doch nichts dagegen, eh?« fragte Poirot, und seine Augen zwinkerten neckend.
»Bewahre, Monsieur Poirot. Ich würde mich sogar freuen, wenn Sie Ihre englischen Kollegen an Findigkeit übertrumpfen. Ich wünsche Ihnen jeden Erfolg.«
»Madame, ich brauche mehr als Ihre Wünsche. Ich brauche Ihre Meinung.«
»Meinung?« plapperte Jane, die zur Begutachtung des Mantelrückens den Kopf weit über die Schulter reckte, ihm zerstreut nach. »Worüber?« »Wen halten Sie für den mutmaßlichen Mörder Lord Edgwares?«
»Keine Ahnung.«
Jetzt nahm sie auch noch den Handspiegel zu Hilfe und bewegte probeweise die Schultern.
»Madame!« rief Poirot mit erhobener Stimme. »Wen halten Sie für den Mörder Ihres Gatten?«
Und infolge dieses lauten Tones ließ sie einen Augenblick von ihren Kleidern ab.
»Wen? Geraldine«, meinte sie.
»Wer ist Geraldine?«
Aber die Aufmerksamkeit von Lord Edgwares Witwe hatte sich bereits wieder verflüchtigt.
»Ellis, heb den Mantel an der rechten Schulter ein wenig. So. Wie, Monsieur Poirot? Geraldine ist seine Tochter . Nein, Ellis, die rechte Schulter. Ja, ja, so wird es besser. Oh, müssen Sie schon gehen, Monsieur Poirot? Ich bin Ihnen unendlich dankbar für alles - ich meine für die Scheidung, selbst wenn sie sich nach den letzten Ereignissen erübrigt hat. Nie werde ich den Dienst, den Sie mir geleistet haben, vergessen.«
Nur zweimal noch sah ich Jane Wilkinson wieder. Einmal auf der Bühne, und einmal, als ich ihr bei einer Einladung zum Lunch gegenübersaß. Aber wenn ich an sie denke, erscheint vor meinen Augen immer jene Frau aus dem Savoy, die - mit Herz und Seele bei den Kleidern, mit dem Verstand ungeschmälert bei ihrer eigenen Person - nachlässig Worte hinwarf, die Poirots weitere Handlungen bestimmten.
»Epatant!« sagte mein Freund mit staunendem Respekt, als wir aus dem Hotelportal traten.
12
Als wir unser Wohnzimmer betraten, leuchtete auf der polierten Tischplatte das weiße Viereck eines Briefes. Poirot nahm ihn, schlitzte ihn mit der ihm eigenen Sorgfalt auf und lachte. »Wenn man vom Teufel spricht ... Sehen Sie, Hastings.« Der Brief war in einer überaus steilen charakteristischen Handschrift geschrieben, die den Eindruck erweckte, als sei sie sehr leicht leserlich, und sich merkwürdigerweise als ziemlich unleserlich erwies.
Sehr geehrter Herr!
Ich hörte, daß Sie heute morgen mit dem Inspektor im Hause weilten, und bedauere außerordentlich, Sie nicht gesprochen zu haben. Wenn Ihre Zeit nicht zu sehr in Anspruch genommen ist, schenken Sie mir bitte heute nachmittag ein paar Minuten.
Ergebenst
Geraldine Marsh
»Sonderbar, daß sie eine Unterredung mit Ihnen wünscht!« meinte ich.
»So? Sie finden das sonderbar? Nun, allzu höflich sind Sie gerade nicht, mon ami.«
Hercule Poirot hat die aufreizende Angewohnheit, immer zur unrechten Stunde zu scherzen.
»Wir werden uns sofort auf die Beine machen, Hastings«, befahl er und stülpte, nachdem er zärtlich ein eingebildetes Staubkörnchen von dem Filz entfernt hatte, seinen Hut auf den Kopf. Jane Wilkinsons leichtfertige Mutmaßung, daß Geraldine ihren Vater getötet haben könne, dünkte mich ebenso abgeschmackt wie widersinnig. Lediglich ein vollkommen hirnloser Mensch vermochte sie zu äußern. Doch als ich meine Ansicht Poirot anvertraute, fertigte er mich unwirsch ab.
»Hirn, Hirn. Was versteht man darunter wirklich? In Ihrer Sprache, mein guter Hastings, besagt es, daß Jane Wilkinson das Hirn eines Kaninchens hat. Das ist eine Formel der Herabsetzung, der Verachtung. Doch betrachten Sie sich einmal das Kaninchen. Es lebt und vermehrt sich, was in der Natur geistige Überlegenheit bedeutet. Die entzückende Lady Edgware weiß sicher weder in der Geschichte noch in der Geographie oder in den Klassikern Bescheid. Hinter dem Namen Lao Tse würde sie ein preisgekröntes Pekinghündchen vermuten, hinter dem Namen Moliere ein Pariser Modellhaus. Aber wenn es sich darum handelt, geschmackvolle Kleider auszuwählen, reiche und vorteilhafte Heiraten zu machen und sich durchzusetzen -dann ist ihr Erfolg phänomenal. Sans doute, phenomenal! Eines Philosophen Ansicht darüber, wer Lord Edgware ermordete, würde ich für wertlos erachten; doch Jane Wilkinsons unüberlegte Meinung könnte mir allenfalls Nutzen bringen, weil ihr Standpunkt materialistisch ist und auf einer Kenntnis der schlimmsten Seite der menschlichen Natur beruht.«
»Vielleicht liegt in Ihren Ausführungen ein Körnchen Wahrheit«, gestand ich zu.
»Nous voici«, sagte Hercule Poirot. »Ich bin neugierig, warum die junge Dame mich so dringend zu sehen begehrt.«
»Es ist ein sehr natürlicher Wunsch«, erwiderte ich, den Spieß umdrehend. »Wenigstens behaupteten Sie dies vor einer Viertelstunde. Der natürliche Wunsch, eine einzigartige Persönlichkeit aus nächster Nähe zu beäugen.«
»Pah, mein Freund! Vielleicht sind Sie es gewesen, der bei unserem allerersten Besuch in diesem Haus einen solch unauslöschlichen Eindruck auf sie gemacht hat!« hänselte mein Freund und drückte gleichzeitig energisch auf den Klingelknopf.
Ich rief mir das bestürzte Gesicht des Mädchens ins Gedächtnis zurück, das auf der Türschwelle erschienen war. Noch immer sah ich die brennenden dunklen Augen in dem weißen Gesicht. Wahrscheinlich hatte sie mich nachhaltiger beeindruckt als ich sie.
Der schöne Griechengott führte uns die Treppe hinauf in ein geräumiges Wohnzimmer, und zwei Minuten später gesellte sich Geraldine Marsh zu uns. Sie war sehr gefaßt - in Anbetracht ihrer Jugend sogar erstaunlich gefaßt.
»Wie liebenswürdig von Ihnen, so schnell meine Bitte zu erfüllen, Monsieur Poirot«, sagte sie. »Es tut mir leid, daß ich Sie heute morgen verfehlte.«
»Sie hatten sich niedergelegt?«
»Ja. Auf Drängen Miss Carrolls, der Sekretärin meines Vaters. Sie war meinetwegen unnötig besorgt.« Fast klang dies wie ein grollender Vorwurf.
»In welcher Art kann ich dienlich sein, Mademoiselle?«
Sie zauderte.
»Nicht wahr, am Tage, bevor mein Vater ermordet wurde, haben Sie ihn besucht?«
»Jawohl.«
»Weshalb? Bat er Sie zu sich?«
Poirot antwortete nicht sofort. Er schien zu überlegen. Heute glaube ich allerdings, daß es von seiner Seite ein klug berechneter Zug war, um Geraldine, deren hitziges, ungeduldiges Temperament er erkannt haben mochte, zum Weiterreden anzustacheln.
»Befürchtete er irgend etwas? Sagen Sie es mir, sagen Sie es. Ich muß es wissen. Wen fürchtete er? Was teilte er Ihnen mit? Oh, weshalb sprechen Sie denn nicht?«
Ah, wie rasch war diese zur Schau getragene Fassung zusammengebrochen! Jetzt saß Geraldine Marsh geduckt vornübergebeugt, und ihre Hände wanden und drehten sich nervös auf ihrem Schoß.
»Ich verhandelte mit Lord Edgware über eine vertrauliche Angelegenheit«, entgegnete Poirot gedehnt.