Hercule Poirot verabschiedete sich bereits von Geraldine Marsh und Miss Carroll.
»Ich werde Sie hinuntergeleiten«, erbot sich Ronald. Und während wir die breite Eichentreppe hinabstiegen, plauderte er weiter: »Ein komisches Ding ist das Leben. An die Luft befördert heute und gleich darauf Herr und Gebieter im Hause ... Mein verstorbener unbeweinter Onkel warf mich nämlich vor drei Jahren hinaus aber vermutlich ist Ihnen das alles schon bekannt, Monsieur Poirot?«
»Ja. Ich habe es zufällig mal gehört«, sagte Poirot gemessen.
»Natürlich, so was hört man immer. Sogar dem grimmigsten Bluthund kommt es zu Ohren.«
Er lachte verschmitzt und stieß die Tür des Eßzimmers auf.
»Nehmen Sie eine kleine Stärkung, bevor Sie gehen, meine Herren.«
Poirot sowohl als auch ich lehnten ab, worauf der junge Herr sich selbst einschenkte, ohne sein Geplauder dabei zu unterbrechen.
»Innerhalb einer einzigen kurzen Nacht bin ich, die Verzweiflung der Gläubiger, eine Hoffnung der Kaufleute geworden. Gestern bettelarm, heute im Überfluß plätschernd. Gott segne Tante Jane!«
Er schlürfte behaglich sein Glas aus. Dann aber wandte er sich in ernsterem Ton an Poirot.
»Was treiben Sie eigentlich, Monsieur Poirot? Das heißt hier im Haus. Vor vier Tagen deklamierte Tante Jane schwungvoll, als ob sie auf der Bühne stände: Wer will mich von diesem unerträglichen Tyrannen befreien . ? Und siehe da, sie ist befreit! Hoffentlich nicht dank Ihrer Mitwirkung, he? Das vollkommene Verbrechen, begangen durch Hercule Poirot, den einstigen Bluthund.«
Mein Freund lächelte nachsichtig.
»Ich folgte heute nachmittag einem Ruf von Miss Geraldine Marsh.«
»Eine sehr diskrete Antwort, mein Bester, mit der ich mich jedoch nicht abspeisen lasse. Aus dem einen oder anderen Grund interessiert Sie selbst der Tod meines Onkels.«
»Mich interessiert jeder Mord, Lord Edgware.«
»Aber Sie verübten ihn nicht, was? Sehr vorsichtig von Ihnen. Sie sollten Tante Jane Vorsicht lehren, Monsieur. Vorsicht und eine etwas bessere Vermummung. Sie werden entschuldigen, wenn ich sie Tante Jane nenne, das macht mir nämlich diebischen Spaß. Haben Sie übrigens ihr verdutztes Gesicht gesehen, als ich sie auch neulich im Savoy so betitelte? Sie hatte nicht den kleinsten Schimmer, wer ich war.«
»En verite?«
»Woher sollte sie mich kennen . Ich wurde ja drei Monate vor ihrer Verheiratung mit meinem Onkel gebeten, mir ein anderes Dach über den Kopf zu suchen.« Eine Sekunde verschwand der alberne, gutmütige Ausdruck von seinem Vollmondgesicht. Aber dann fuhr der glückliche Erbe Lord Edgwares mit derselben Leichtigkeit fort: »Prachtvolles Weib, nicht? Aber kein Geschick, keine Schlauheit. Ziemlich unreifes Vorgehen, wie?«
Poirot zuckte die Schultern.
»Es ist möglich.«
Ronald blickte ihn befremdet und neugierig an.
»Sie scheinen zu glauben, daß sie nicht der Täter war. Also ist es ihr gelungen, Sie auch schon kirre zu machen!«
»Ich habe eine große Bewunderung für Schönheit«, sagte mein Freund gleichmütig. »Aber auch für ... Beweismaterial.«
»Beweismaterial?«
»Anscheinend wissen Sie nicht, Lord Edgware, daß Ihre Frau Tante - um diesen Ihnen so sehr genehmen Ausdruck zu gebrauchen zur selben Stunde, als man sie hier gesehen haben will, auf einer Abendgesellschaft am Chiswickufer weilte.«
»Donnerwetter! Also ist sie doch hingegangen? Das ist so richtig Weiberart. Um sechs Uhr versicherte sie, daß nichts auf Erden sie bewegen könnte, Sir Montague Corners Einladung Folge zu leisten, und wahrscheinlich wählte sie zehn Minuten später schon die Toilette für das Fest aus! Was lernt man daraus? Sich bei einem Mordplan nie auf eine Frau zu verlassen. Die ausgetüfteltsten Pläne werden dadurch Stümperwerk. Nein, Monsieur Poirot, ich beschuldigte mich nicht selbst. Oh, meinen Sie, ich wüßte nicht, in welcher Richtung Ihr Hirn jetzt arbeitet? Wer ist denn der natürliche Verdächtige? Der überall als Taugenichts verschriene Neffe.«
Er kuschelte sich schmunzelnd tiefer in die Polster seines Sessels und schlug die Beine übereinander.
»Ich werde Ihre kleinen grauen Zellen vor unnötiger Arbeit bewahren, Monsieur Poirot. Sie brauchen nicht herumzuhetzen, um jemanden ausfindig zu machen, der mich in der Nähe sah, als Tante Jane erklärte, daß sie nie, nie, nie am Abend ausgehen würde. Ja, ich befand mich in Hörweite. Na, wie steht's nun? Kam der gottlose Neffe im Schmuck einer blonden Perücke und eines Pariser Hutes als Frau verkleidet hierher?«
Der neugebackene Lord Edgware schien die Lage, in die uns seine Eröffnungen versetzten, höchst ergötzlich zu finden. Poirot - mit der bekannten schiefen Kopfhaltung - sah ihn aufmerksam an, und ich fühlte mich im höchsten Grade unbehaglich.
»O ja, ich hatte einen Grund - einen sehr beliebten Grund sogar, Monsieur Poirot. Und ich werde Ihnen jetzt eine besonders wertvolle und schwerwiegende Auskunft geben. Gestern morgen habe ich meinen Onkel aufgesucht. Warum? Um Geld von ihm zu verlangen. Nicht wahr, da lecken Sie sich die Lippen .? Um Geld zu verlangen - prägen Sie es sich gut ein. Und ich trollte mich von dannen, ohne es bekommen zu haben. Am Abend, am selben Abend, stirbt Lord Edgware. Ein guter Titel übrigens: Lord Edgware stirbt. Würde sich fabelhaft auf einem Bücherstand machen.«
Er gestattete sich eine Pause, offenbar in der Erwartung, daß Hercule Poirot zu dem Gehörten Stellung nehmen würde. Aber dieser schwieg.
»Ich fühle mich durch Ihre Aufmerksamkeit insgemein geschmeichelt, Monsieur Poirot. Und Hauptmann Hastings macht den Eindruck, als hätte er ein Gespenst gesehen oder als erwarte er es in jeder Sekunde. Mein Lieber, seien Sie nur nicht allzu gespannt . Also, wo waren wir stehengeblieben? Ach ja, bei dem gottlosen Neffen, der den Verdacht schnöde auf die verhaßte Tante lenkt. Mit zarter, mädchenhafter Stimme gibt er sich dem Butler als Lady Edgware zu erkennen und trippelt mit winzigen Schritten an ihm vorbei. >Jane!< schreit mein teurer Onkel bei meinem Anblick. >George!< lispele ich. Dann schlinge ich meine Arme um seinen Nacken und bohre ihm das Taschenmesser ins Rückgrat. Über die nächsten Einzelheiten können wir, da sie rein medizinischer Art sind, hinweggehen. Es genügt zu erwähnen, daß die falsche Dame das Haus verläßt und sich mit dem Gedanken zu Bett begibt, ein gutes Tagewerk hinter sich zu haben.«
Er lachte, stand auf, um sich einen neuen Whiskysoda einzugießen und kehrte hierauf gemächlich zu seinem Sessel zurück.
»Klappt fein, wie? Aber sehen Sie, jetzt flaut das Ganze ab, jetzt naht die Enttäuschung. Denn nunmehr sind wir bei dem Alibi angelangt, Monsieur Poirot.« Er stürzte den Inhalt des Glases hinunter. »Ich finde Alibis immer sehr genußreich. Sooft ich eine Detektivgeschichte lese, lauere ich stets vom ersten Kapitel an gierig auf das Alibi. Ich habe Ihnen ein ausgezeichnetes zu bieten: Mr., Mrs. und Miss Dortheimer, außerordentlich reiche und außerordentlich musikalische Herrschaften. Sie haben eine Loge im Covent Garden. In diese Logen pflegen sie junge Herren mit aussichtsreicher Zukunft zu bitten. Ich, Monsieur Poirot, bin ein solcher junger Herr - so trefflich, wie Sie ihn sich überhaupt nur wünschen können. Ob ich die Oper liebe? Ehrlich gestanden, nein. Aber ich nehme gern das reichhaltige Dinner in Grosvenor Square mit und lehne auch das anschließende Supper nicht ab, selbst wenn es mich zum Tanz mit Rachel Dortheimer verpflichtet und ich noch zwei Tage hinterher mit einem lahmen Arm herumlaufe. Das ist nun sehr traurig, Monsieur Poirot: Als nämlich Onkels Leben mit seinem Blut verströmte, tuschelte ich fröhliche Nichtigkeiten in das brillantengeschmückte Ohr der blonden - Pardon - der schwarzen Rachel. Und deshalb, mein sehr verehrter Monsieur Poirot, darf ich es mir erlauben, so freimütige Reden zu führen. Ich habe Sie doch hoffentlich nicht gelangweilt? Haben Sie sonst noch einige Fragen?«