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»Mein lieber Poirot, Sie schmeißen ja alle meine Vorstellungen von Zeugen über den Haufen!«

»Auf meine Frage über Lord Edgwares Wiederverheiratung belächelt sie den Gedanken einfach deshalb, weil er ihr niemals aufgestiegen ist. Sie nimmt sich nicht die Mühe zu überlegen, ob nicht doch irgendwelche geringfügigen Anzeichen in diese Richtung deuten. Und deshalb stehen wir am selben Fleck wie zuvor. Wohlverstanden, Hastings, ich halte sie nicht für eine vorsätzliche Lügnerin, sofern . Bei Gott, das ist eine Idee!« unterbrach er sich plötzlich.

»Was denn? Was, Poirot?« drängte ich neugierig.

Aber er schüttelte bereits den Kopf. »Nein - das ist zu unmöglich.« Und er weigerte sich, mehr zu sagen.

»Sie scheint das junge Mädchen sehr lieb zu haben«, brachte ich das Gespräch wieder in Gang.

»Ja. Welchen Eindruck hinterließ Miss Geraldine Marsh bei Ihnen, Hastings?«

»Sie tat mir leid - ganz entsetzlich leid.«

»Ich weiß, Sie haben immer ein zärtliches Herz. Schönheit im Zustand der Betrübnis hat Sie noch jedesmal mitgenommen. Aber« - er wurde plötzlich ernst - »daß sie ein sehr unglückliches Dasein geführt hat, steht klar und deutlich auf ihrem Gesicht geschrieben.«

»Jedenfalls werden Sie jetzt eingesehen haben, wie verkehrt Jane Wilkinsons Mutmaßung war, Geraldine könne mit dem Verbrechen etwas zu tun haben.«

»Fraglos ist ihr Alibi befriedigend - indes hat Japp es mir bisher noch nicht mitgeteilt.«

»Aber mein lieber Poirot! Sie wollen doch damit nicht andeuten, daß Sie, nachdem Sie sie gesehen und gesprochen haben, noch ein Alibi verlangen?«

»Eh bien, mein Freund, welches Ergebnis hat das Sehen und Sprechen gehabt? Wir erfahren, daß viel Leid und Kummer hinter ihr liegen; sie selbst gesteht, daß sie ihren Vater gehaßt hat und froh über seinen Tod ist. Fernerhin zeigt sich einem scharfen Beobachter, daß sie in Unruhe darüber ist, was ihr Vater gestern morgen mit uns besprochen hat. Und nach all diesem erkühnen Sie sich zu sagen: Ein Alibi ist unnötig!«

»Ihre Freimütigkeit beweist ihre Unschuld«, verteidigte ich sie warm.

»Freimütigkeit scheint der hervorstechendste Charakterzug dieser Familie zu sein. Der neue Lord Edgware zum Beispiel -mit welcher freimütigen Geste breitete er seine Karten vor uns auf den Tisch!«

»Ja, das tat er wirklich!« erwiderte ich und lächelte unwillkürlich bei der Erinnerung. »Eine ziemlich selbständige Methode.« Poirot stimmte mir durch ein Nicken bei.

»Er gräbt - wie ihr Engländer sagt - einem den Boden vor den Füßen weg.«

»Unter den Füßen«, verbesserte ich. »Ja, wir beide müssen ziemlich dumm ausgesehen haben.«

»Welch ein Einfall! Ich fühlte mich durchaus nicht dumm und werde deshalb auch schwerlich so ausgesehen haben, Hastings. Im Gegenteil, ich raubte ihm sogar die Fassung.«

»Wieso?«

»Ach, Hastings, Ihnen fehlt jede Beobachtungsgabe . !« bedauerte mich mein Freund. »Haben Sie nicht bemerkt, wie ich ihm lauschte und lauschte, bis ich schließlich mit einer ganz fernliegenden Frage dazwischenfuhr? Und das hat unseren guten Monsieur außerordentlich unangenehm berührt.«

»Ich meine, sein Entsetzen und Erstaunen bei der Kunde von Carlottas Tod seien echt gewesen.«

»Vielleicht - vielleicht auch nicht. Indes schienen sie echt zu sein.«

»Und aus welchem Grund hat er Ihrer Meinung nach mit solchen zynischen Worten alle diese Einzelheiten vor uns ausgekramt? Bloß zu seinem Vergnügen?«

»Unmöglich ist es nicht. Der englische Humor äußert sich bisweilen auf die ungewöhnlichste Art. Es kann aber auch List gewesen sein. Verheimlichte Tatsachen nehmen leicht eine verdächtige Wichtigkeit an, wohingegen man Tatsachen, die offenherzig enthüllt werden, meist geringfügiger wertet, als sie wirklich sind.«

»Der Streit mit dem Onkel an dessen Todestag zum Beispiel?« »Richtig. Er weiß, daß sein Besuch bekannt werden wird -mithin holt er zu einem Gegenzug aus.«

»Dann ist er gär nicht so töricht, wie er aussieht.«

»Ronald Marsh töricht . ? Mein lieber Hastings, er hat eine ganze Menge Verstand, wenn es ihm darauf ankommt, sich seiner zu bedienen. Im übrigen aber meine ich, daß uns ein Imbiß guttun würde. Une petite omelette, n'estcepas? Und hinterher, etwa um neun Uhr, möchte ich noch einen anderen Besuch mit Ihnen machen.«

»Bei wem?«

»Erst den Hunger stillen, mon cher. Und bis wir unseren Kaffee trinken, werden wir den Fall nicht weiter erörtern. Während der Mahlzeit sollte das Hirn stets der Diener des Magens sein.«

Wir befahlen dem Chauffeur, uns nach einem kleinen Restaurant in Soho zu fahren, wo man uns kannte und ein zartes Omelette, eine Seezunge, ein Hähnchen und einen Rumpudding servierte, den Poirot mit wollüstigem Behagen verzehrte. Als wir den ersten Schluck Kaffee nippten, lächelte er mich gütig an.

»Mein alter Freund«, sagte er, »ich bin mehr von Ihnen abhängig, als Sie ahnen.«

Diese unerwarteten Worte verwirrten und erfreuten mich. Noch nie hatte er eine derartige Bemerkung fallen lassen; eher schien er bislang darauf auszugehen, meine geistigen Fähigkeiten herabzusetzen, was mich im stillen schon häufig gewurmt hatte.

»Ja«, sagte er verträumt. »Sie mögen nicht begreifen, warum es so ist - aber Sie weisen mir oft und oft den Weg.«

Ich wagte meinen eigenen Ohren nicht zu trauen.

»Wirklich, Poirot ...«, stammelte ich gerührt. »Das freut mich unsagbar. Ich vermute, daß ich eine Unmenge von Ihnen gelernt habe .«

Heftig schüttelte er den Kopf.

»Mais non, ce n'est pas 9a. Sie haben nichts gelernt.«

»Oh!« Mir war, als hätte ich eine eisige Dusche erhalten.

»So muß es auch sein«, belehrte er mich. »Kein menschliches Wesen sollte von einem anderen lernen. Jedes Individuum sollte seine eigenen Fähigkeiten bis zur höchsten Vollendung entwickeln, aber nicht versuchen, jene eines anderen nachzuahmen. Ich will nicht, daß Sie ein zweiter und minderwertiger Poirot werden; ich will, daß Sie der erhabenste, größte Hastings sind. Und das sind Sie, mon cher. In Ihnen finde ich den normalen Verstand beinahe vollkommen verkörpert. Sie befinden sich im schönsten Gleichgewicht, Sie sind ein Urbild der Gesundheit. Wissen Sie nicht, was das für mich bedeutet ...? Wenn der Verbrecher sich zu einem Verbrechen anschickt, so ist sein erstes Bestreben zu täuschen. Wen sucht er zu täuschen? Das Bild, das sich seinem Hirn aufdrängt, ist das des normalen Menschen. Daß es diesen in hundertprozentiger Vollkommenheit gar nicht gibt, daß er nur ein Ding mathematischer Berechnung ist, steht auf einem anderen Blatt. Sie, Hastings, kommen diesem hundertprozentig normalen Menschen jedenfalls so nahe wie möglich. Sie haben glänzende Momente, in denen Sie sich über den Durchschnitt erheben, und wiederum solche, in denen Sie - ich hoffe, Sie verzeihen mir! - in merkwürdige Tiefen der Stumpfheit und Blödheit hinabsteigen; doch alles in allem sind Sie erstaunlich normal. Eh bien, wie kommt mir dies zugute? Höchst einfach! Wie in einem Spiegel sehe ich in Ihrem Hirn sich genau das widerspiegeln, was der Verbrecher mir weismachen möchte. Und das ist für mich unbeschreiblich nützlich und anregend.«