»Das eilt gar nicht, bester Herr. Wir haben Zeit in Hülle und Fülle.«
»Ja, das fühlt man, sobald man nur den Fuß über die Schwelle Ihres Heims setzt«, seufzte Mrs. Widburn verzückt. »Und das ist herrlich.«
»Wenn man mir eine Million Pfund schenkte, so würde ich nicht in London selbst wohnen«, sagte Sir Montague. »Hier draußen weht eine Atmosphäre von Friede und Stille, die unser hetzendes, lärmendes Zeitalter nicht mehr kennt.«
Ich konnte mich des ruchlosen Gedankens nicht erwehren, daß Sir Montague Corner auf die gerühmte Atmosphäre pfeifen würde, wenn jemand ihm wirklich eine Million Pfund böte; aber ich hütete mich wohlweislich, solche ketzerischen Gefühle laut werden zu lassen.
»Was ist denn schließlich Geld?« murmelte Mrs. Widburn verächtlich.
»Ah«, sagte ihr Gemahl nachdenklich, indem er unwissentlich mit etlichem Wechselgeld in seiner Hosentasche klimperte, was Mrs. Widburn mit einem vorwurfsvollen »Archie!« rügte.
»Verzeihung!« Und Mr. Widburn hörte zu klimpern auf.
»In einer solchen Atmosphäre von Verbrechen zu sprechen, ist eigentlich unverzeihlich«, begann Poirot.
»Durchaus nicht.« Wieder wedelte Sir Montague gnädig mit der Hand. »Ein Verbrechen kann ein Kunstwerk sein - und ein Detektiv ein Künstler. Natürlich gilt dies nicht für die Polizei. Da war zum Beispiel heute ein Inspektor bei mir, ein wirklich komischer Kauz. Vermögen Sie sich vorzustellen, daß der Mann noch nie etwas von Benvenuto Cellini gehört hatte?«
»Vermutlich war er wegen Jane Wilkinson bei Ihnen, wie?« fragte Mrs. Widburn in schnell entbrannter Neugier.
»Die Dame kann von Glück sagen, daß sie gestern abend sich in Ihrem Haus aufgehalten hat«, mischte sich Hercule Poirot ein.
»Das scheint so. Ich lud sie ein, weil sie schön und talentiert ist und weil ich hoffte, ihr von Nutzen sein zu können. Und nun hat das Schicksal gewollt, daß ich ihr in einem ganz anderen Sinn, als wir ahnten, von Nutzen bin.«
»Jane ist überhaupt ein Glückskind«, meinte Mrs. Widburn. »Nichts hat sie sich so sehnlich gewünscht, als Lord Edgware loszuwerden. Und da kommt ein Unbekannter und räumt ihr alle Hindernisse aus dem Weg. Man munkelt übrigens allgemein, daß sie den Herzog von Merton heiraten wird, dessen Mutter außer sich vor Zorn deswegen ist.«
»Ich muß sagen, daß sie mich durch ihren Geist noch mehr bezaubert hat als durch ihre Schönheit«, erklärte Sir Montague. »Sie machte ein paar Bemerkungen über die griechische Kunst, die von klugem Verständnis zeugten.«
Klugem Verständnis .! Ich lächelte innerlich, da ich mir Jane ausmalte, wie sie mit ihrer magischen, heiseren Stimme »Ja« und »Nein« oder »Wirklich wundervoll« girrte. Und Sir Montague Corner war der Mann, der die Fähigkeit, seinen eigenen Bemerkungen mit gebührender Aufmerksamkeit zu lauschen, als Gradmesser der Intelligenz nahm.
»Edgware ist unleugbar ein sonderbarer Heiliger gewesen«, sagte Widburn, »und wird sich genug Feinde gemacht haben.«
Hierauf wandte sich seine Gattin an Hercule Poirot.
»Stimmt es, daß er mit einem Messer in den Nacken gestochen wurde?«
»Jawohl, Madame. In durchaus sachgemäßer, wirksamer - um nicht zu sagen wissenschaftlicher - Weise.«
»Ich merke, welch künstlerisches Vergnügen Ihnen der Fall bereitet, Monsieur Poirot«, warf der Hausherr ein.
»Darf ich jetzt die Ursache meines Hierseins erläutern?« bat mein kleiner Freund. »Mir wurde gesagt, daß man Lady Edgware während des gestrigen Dinners ans Telefon rief. Gestatten Sie mir, daß ich Ihrem Personal hierüber einige Fragen vorlege?«
»Gewiß, gewiß. Ross, wollen Sie bitte klingeln?«
Auf dieses Klingelzeichen erschien der Butler, ein hochgewachsener Mann von mittlerem Alter und priesterlichem Gebaren.
Sir Montague erklärte, worum es sich handele.
»Wer ging an den Apparat, als es läutete?« begann dann Poirot sein Verhör.
»Ich selbst, Sir. Das Telefon befindet sich in einer der Halle angegliederten Nische.«
»Fragte man nach Miss Wilkinson oder nach Lady Edgware?«
»Nach Lady Edgware, Sir.«
»Wie war der genaue Wortlaut?«
Der Butler überlegte eine Sekunde.
»Wenn ich nicht irre, Sir, sagte ich >Hallo!<, worauf eine Stimme sich erkundigte, ob dort Chiswick 43434 sei. Auf meine bejahende Antwort hieß man mich am Apparat warten. Hierauf vergewisserte sich eine andere Stimme noch einmal über die Richtigkeit der Nummer und fragte sodann: >Ist Lady Edgware bei Ihnen zu Tisch? Dann möchte ich sie gern sprechen. < Ich benachrichtigte die Dame, die sich von der Tafel erhob und unter meiner Führung zum Telefon ging.«
»Und weiter?«
»Lady Edgware nahm den Hörer auf, sagte: >Hallo!, wer spricht?< und dann: >Ja, ja, Lady Edgware persönlich.< Ich wollte mich gerade zurückziehen, als sie sich umwandte und verwundert bemerkte, die Verbindung sei unterbrochen worden; es hätte jemand gelacht und offenbar den Hörer niedergelegt. Ob der Betreffende mir nicht seinen Namen genannt habe .? Dies mußte ich verneinen, Sir, und damit war das Ganze erledigt.«
»Glauben Sie wirklich, Monsieur Poirot, dieser Anruf stände mit dem Mord in Zusammenhang?« riß Mrs. Widburn das Wort an sich.
»Unmöglich, darüber zu urteilen, Madame. Immerhin ist es ein sonderbarer Vorfall.«
»Finden Sie? Man erlaubt sich doch manchmal einen Scherz.«
»C'est toujours possible, Madame.«
»War es eine Männer- oder eine Frauenstimme?« begehrte Poirot von dem Butler zu wissen.
»Meiner Meinung nach eine Frauenstimme, Sir.«
»Hoch oder tief?«
»Tief, Sir. Mit sorgfältiger, deutlicher Aussprache.« Er zauderte. »Mir klang es beinahe wie die Stimme einer Ausländerin. Die R's traten ungewöhnlich hervor.«
»Donald, Donald, vielleicht ist es eine schottische Stimme gewesen!« rief Mrs. Widburn neckend dem jungen Ross zu.
»Nicht schuldig!« gab er lachend zurück. »Ich saß nämlich mit bei Tisch.«
Aber Poirot gab den Butler noch nicht frei.
»Würden Sie die Stimme, wenn Sie sie noch einmal hörten, wiedererkennen?« fragte er.
Der Mann blickte unsicher vor sich hin.
»Das wage ich weder zu bejahen noch zu verneinen, Sir.«
»Es ist gut. Ich danke Ihnen, mein Lieber.«
»Bitte sehr, Sir.«
Der Butler verneigte sich gemessen und schritt zur Tür.
Sir Montague Corner, dem es offenbar gefiel, seine Hausherrnrolle mit altfränkischer Grandezza zu spielen, überredete uns, dazubleiben und am Bridge teilzunehmen. Ich lehnte das Spiel ab mein Geldbeutel glaubte sich den hohen Einsätzen nicht gewachsen. Und der junge Ross fühlte sich als Zuschauer anscheinend ebenfalls wohler. Jedenfalls endete der Abend mit einem beträchtlichen finanziellen Gewinn für Poirot und Sir Montague. Dann dankten wir unserem Gastgeber und brachen, gemeinsam mit Ross, auf.
»Ein drolliger kleiner Mann«, meinte Poirot, als wir durch den parkartigen Garten zum Portal schritten.
Angesichts der schönen, sternenklaren Nacht entschlossen wir uns einmütig, ein Stück des Heimweges zu Fuß zurückzulegen.
»Ein sehr reicher kleiner Mann«, wandelte Ross den Ausspruch meines Freundes ab.
»Vermutlich.«
»Und wer ihn als Gönner hat, braucht sich über seine Zukunft nicht mehr zu grämen.«
»Sie sind Schauspieler, Mr. Ross?«
Ross bejahte es und schien betrübt darüber zu sein, daß sein Künstlerruhm nicht bis zu unseren Ohren gedrungen war. Offenbar hatte irgendein düsteres, aus dem Russischen übersetztes Stück ihm kürzlich glänzende Rezensionen eingetragen. Nachdem Poirot und ich seinen Kummer durch ein paar Schmeicheleien gelindert hatten, warf mein Freund beiläufig hin:
»Haben Sie übrigens Carlotta Adams gekannt?«
»Nein. Ich las aber ihre Todesanzeige in den Abendblättern. Gestorben an einer übergroßen Dosis Veronal, nicht? Blödsinnig, daß alle diese Mädchen irgendeinem Gift verfallen sind!«