Durch irgendeine Leitung bekam der junge Feuilletonredakteur im >Evening Shriek< Wind von der Sache. Er setzte sich mit der Frau in Verbindung, horchte sie aus, und heute abend werden Sie im >Evening Shriek< einen herzzerbrechenden Artikel lesen: Die letzten Stunden einer talentierten Schauspielerin.«
»Und wie fand die Nachricht den Weg so schnell zu Ihnen?«
»Oh, wir stehen mit dem >Evening Shriek< auf sehr gutem Fuß, knausern - soweit angängig - nicht mit Nachrichten und beziehen aus dieser Quelle als Gegenleistung bisweilen ganz brauchbare Hinweise. Und als der tüchtige junge Mann mich heute wegen einer anderen Sache aufsuchte, erfuhr ich beiläufig von der Existenz besagter Kellnerin. Daß ich schnurstracks zum Corner House sauste, können Sie sich denken .«
Ja, so mußte man die Dinge anpacken! Mein Herz durchzuckte ein qualvolles Mitleid mit Poirot. Da hörte Japp all diese Nachrichten aus erster Hand, wobei er sicher viele wertvolle Einzelheiten unbeachtet ließ, und Poirot, der hundertmal begabtere Poirot, begnügte sich damit, sie nachher aus Japps Munde zu erfahren.
»Ich habe die Kellnerin gesprochen. Sie konnte zwar Carlotta Adams' Fotografie aus den ihr vorgelegten nicht herausgreifen, aber sie erklärte das glaubhafterweise damit, daß sie nicht so sehr auf die Gesichtszüge der Dame geachtet habe. Sie sei jung und dunkel und schlank gewesen, sehr gut gekleidet, und habe auf dem einen Ohr einen der neuen Hüte getragen. Ich wollte, das Weibervolk guckte ein bißchen mehr auf die Gesichter und ein bißchen weniger auf die Hüte.«
»Miss Adams' Gesicht prägte sich einem nicht so ohne weiteres ein«, gab Poirot zu bedenken. »Es verfügte über zu viel Beweglichkeit, Empfindlichkeit; es war, möchte ich sagen, von weicher, fließender Art.«
»Vielleicht haben Sie recht - ich verstehe mich nicht auf solche seelischen Spitzfindigkeiten. Jedenfalls sei die Dame schwarz gekleidet gewesen und hätte einen Koffer bei sich gehabt, erklärte mir die Kellnerin; es habe sie noch gewundert, fügte sie hinzu, daß eine derartig elegante Dame sich mit einem Koffer herumschleppe. Die Fremde bestellte Rührei und Kaffee, aber nach Ansicht der Kellnerin nur, um die Zeit totzuschlagen, denn sie habe offenbar jemanden erwartet. Verschiedentlich hätte sie auf die Armbanduhr geschaut. Als das Mädchen ihr die Rechnung vorlegte, bemerkte es die Golddose. Die Dame drehte und wendete sie mit träumerischem Lächeln hin und her, klappte den Deckel auf, klappte ihn wieder zu, und hierbei blitzten die roten Steine der beiden Buchstaben hell auf.
Aber auch nach dem Begleichen der Rechnung ist Miss Adams noch längere Zeit sitzen geblieben. Schließlich sah sie zum letztenmal auf die Uhr, schien das Warten aufzugeben und ging hinaus.«
Poirot rieb sich die Hände.
»Das war ein Rendezvous«, murmelte er. »Ein Rendezvous mit jemand, der es vorzog, sich nicht einzufinden. Aber hat Carlotta ihn hinterher getroffen? Oder verfehlte sie ihn, fuhr heim und versuchte, ihn telefonisch zu erreichen? Oh, wenn ich das doch wüßte!«
»Kleben Sie noch immer an Ihrer Theorie des Unbekannten hinter den Kulissen, Monsieur Poirot? Geben Sie sie auf - jener Unbekannte ist eine Fabelgestalt. Damit will ich aber keineswegs sagen, daß die Adams sich nicht doch für später, also nach Erledigung ihres Geschäftes mit Lord Edgware, verabredet hatte. Nun, wir wissen, was geschah; sie verlor den Kopf und erstach Edgware. Doch sie ist nicht die Frau, die den Kopf für längere Zeit verliert. Sie verändert auf dem Bahnhof Euston abermals ihr Aussehen, begibt sich mit ihrem Koffer zum verabredeten Stelldichein, und dort packt sie das, was man so Reaktion nennt. Grauen und Entsetzen über ihre Tat. Und daß ihr Freund sie sitzenließ, gibt ihr den Rest. Vielleicht hat sie ihm gegenüber auch erwähnt, daß sie einen Besuch in Regent Gate beabsichtigte. Sie sieht die drohende Entdeckung, nimmt ihre kleine Dose aus der Tasche . Ah, eine reichliche Menge von dem weißen Pulver, und alles ist vorüber! Und einen solchen Tod zieht sie dem Strick des Henkers vor. Das ist so eindeutig wie die Nase in ihrem Gesicht, Monsieur Poirot.«
Zweifelnd strich mein Freund an seiner Nase entlang, dann glitten die Finger abwärts zum Schnurrbart, um ihn mit liebevoller Sorgfalt zu glätten.
»Nichts deutet auf einen geheimnisvollen Drahtzieher«, sagte Japp, sein Übergewicht hartnäckig auskostend. »Noch habe ich allerdings keinen handgreiflichen Beweis für eine Verbindung zwischen ihr und dem Ermordeten - aber das ist lediglich eine Frage der Zeit. Daß Paris mich schwer enttäuschte, will ich nicht leugnen, man darf jedoch nicht vergessen, daß neun Monate eine hübsche Zeitspanne sind. Und da man die Nachforschungen dort weiter betreibt, ist es nicht ausgeschlossen, daß allmählich doch noch das eine oder andere ans Licht kommt. Ich weiß, Sie teilen meine Ansicht nicht, Sie dickschädliger alter Bock!«
»Erst beleidigen Sie meine Nase und dann meinen Schädel -das ist nicht hübsch, mon cher.«
»Redensarten, weiter nichts!« besänftigte Japp. »Kein Grund, sich beleidigt zu fühlen.«
»Tun wir auch nicht!« warf ich dazwischen.
Poirots Blicke wanderten von mir zu Japp und wieder zurück.
»Sonst noch einen Befehl?« scherzte der Inspektor.
»Einen Befehl, nein.« Poirot lächelte ihm verzeihend zu. »Eine Anregung, ja.«
»Heraus damit!«
»Halten Sie bei den Droschkenchauffeuren Umfrage, bis Sie denjenigen finden, der in der Mordnacht einen Fahrgast - oder viel wahrscheinlicher zwei Fahrgäste - aus der nächsten Umgebung von Covent Garden nach Regent Gate brachte. Zeit: ungefähr zwanzig Minuten vor elf.«
Inspektor Japp zog pfiffig die eine Braue in die Höhe.
»Hallo, daher pfeift der Wind . ? Gut, soll geschehen. Schaden kann ja nicht daraus erwachsen - und außerdem sind ja nicht alle Ihre Ideen mangelhaft!«
Kaum hatte er uns verlassen, so schoß mein träger Freund mit ungeahnter Energie aus seinem bequemen Sessel hervor und begann seinen Hut zu bürsten.
»Keine Fragen, Hastings! Holen Sie mir lieber das Benzin. Ein Krümel Omelette ist auf meine Weste gefallen.«
Gehorsam brachte ich ihm das Verlangte.
»Das Ganze scheint mir so klar, daß sich Fragen überhaupt erübrigen«, erwiderte ich, die Flasche entkorkend.
»Schweigen Sie, mon cher. Und Sie verübeln es mir wohl nicht, wenn ich Ihnen eröffne, daß mir die Art, wie Sie Ihre Krawatte gebunden haben, durchaus nicht gefällt.«
»Sie ist doch sehr hübsch gebunden.«
»So? Vor dreißig Jahren fand man das vielleicht mal hübsch. Ich flehe Sie an, nehmen Sie eine andere, und bürsten Sie sich ferner den rechten Ärmel ab.«
»Wollen wir vielleicht dem König im Buckingham-Palast einen Besuch machen?« fragte ich beißend.
»Nein. Aber ich las in der Morgenzeitung, daß der Herzog von Merton in London eingetroffen ist, und da er zu dem englischen Hochadel zählt, will ich ihm alle gebührenden Ehren erweisen.« Sozialistische Vorurteile kann man Hercule Poirot nicht vorwerfen.
»Was wollen wir beim Herzog?«
»Ich will ihn sprechen.«
Zu weiteren Erklärungen ließ er sich nicht herbei. Und als sein sehr kritisches Auge an meinem Äußeren nichts mehr auszusetzen fand, machten wir uns auf den Weg.
Im Merton-House fragte uns ein Lakai, ob wir angemeldet seien, was Poirot verneinen mußte. Hierauf händigte er ihm seine Karte aus, und nach wenigen Minuten kehrte der Mann mit dem Bescheid zurück, daß Durchlaucht bedaure, uns infolge dringender Geschäfte nicht empfangen zu können.