Hercule Poirot nahm unverzüglich auf dem ersten besten Stuhl Platz.
»Tres bien!« sagte er. »Ich warte. Und werde, wenn nötig, mehrere Stunden warten.«
Dies erwies sich jedoch als überflüssig. Wahrscheinlich glaubte der Herzog, den ungelegenen, zudringlichen Besucher noch am schnellsten durch möglichste Abkürzung der Wartezeit loszuwerden, und rief uns bereits nach wenigen Minuten zu sich. Wir sahen uns einem etwa Siebenundzwanzigj ährigen gegenüber, einer hageren, kränklichen Erscheinung mit fahlem Haar, das sich an den Schläfen bereits bedenklich lichtete, kleinem verbittertem Mund und wässerigen, verträumten Augen. In dem Raum, in dem er uns empfing, hingen größere und kleinere religiöse Gemälde, und das große Bücherregal schien ausschließlich theologischen Büchern vorbehalten zu sein.
Ein Herzog . ? Nein, viel eher glich der junge Mann einem dürren Kurzwarenhändler!
Wegen seiner zarten Gesundheit zu Hause erzogen, hatte er, wie ich wußte, als Knabe von acht Jahren die Herzogswürde geerbt und war aufgewachsen unter dem herrischen Regiment einer willensstarken Mutter. Das war der Mann, der eine sofortige Beute Jane Wilkinsons geworden war! Welche Späße sich das Schicksal oft erlaubte .!
»Vielleicht ist Ihnen mein Name bekannt!« begann Poirot.
»Nein, durchaus unbekannt«, klang es frostig zurück.
»Ich studiere die Psychologie des Verbrechens«.
Der Herzog schwieg. Er saß an seinem Schreibtisch, und vor ihm lag ein unvollendeter Brief.
»Aus welchem Grund wünschen Sie mich zu sprechen?« erkundigte er sich und tippte ungeduldig mit dem Federhalter auf die Platte.
Poirot hatte ihm gegenüber Platz genommen, den Rücken dem Fenster zugekehrt.
»Ich bin gegenwärtig damit beschäftigt, die mit Lord Edgwares Tod verknüpften Umstände zu untersuchen.«
Kein Muskel rührte sich in dem schwachen, aber störrischen Gesicht.
»So ...? Ich war nicht mit ihm bekannt.«
»Aber Sie sind mit seiner Frau bekannt - mit Miss Jane Wilkinson.«
»Allerdings.«
»Wissen Sie, daß man vermutet, sie habe Ursache gehabt, den Tod ihres Gatten zu ersehnen?«
»Ich weiß nichts Derartiges.«
»Durchlaucht, mir scheint es besser, wenn ich Sie rundheraus frage, ob Sie Jane Wilkinson heiraten wollen.«
»Wenn ich mich mit irgendeiner Dame verlobe, wird es in den Zeitungen bekanntgegeben werden. Ihre Frage aber, mein Herr, fasse ich als eine Frechheit auf. Guten Morgen!«
Poirot erhob sich, linkisch, verlegen. Er hielt den Kopf gesenkt und stammelte:
»Ich beabsichtige keine . Je vous demande pardon .«
»Guten Morgen!« wiederholte der Herzog, ein wenig lauter als das erstemal.
Nun ergab sich Poirot in sein Schicksal. Mit einer Bewegung, die seine völlige Hoffnungslosigkeit kennzeichnete, wandte er sich dem Ausgang zu. Es war eine schimpfliche Entlassung!
Mir tat der Kleine leid. Schlecht war ihm sein gewöhnlicher Schwulst bekommen ... Für den Herzog von Merton stand ein großer Kriminalist offenbar auf derselben Stufe wie ein Mistkäfer.
»Da haben wir schlimm abgeschnitten«, sagte ich mitfühlend. »Was für ein steifnackiger Wüterich dieser blasse Zwirnsfaden ist .! Lag Ihnen denn so viel daran, ihn zu sehen?«
»Ich wollte erfahren, ob er und Jane Wilkinson sich wirklich heiraten werden.«
»Sie hat es uns doch gesagt!«
»Oh, die sagt all und jedes, sofern es ihren Zwecken dienlich ist. Es hätte doch sein können, daß sie entschlossen war, ihn zu heiraten, und daß er, der Ärmste, noch nichts davon ahnte.«
»Nun, durch unseren Besuch sind Sie jedenfalls nicht schlauer geworden.«
»Meinen Sie, mon cher ...? Gewiß, er hat mich abgefertigt wie einen lästigen Reporter. Aber trotzdem weiß ich jetzt genau, wie der Hase läuft«, lachte mein Freund, und all seine frühere Niedergeschlagenheit war wie weggeblasen.
»Wodurch? Durch seine Art?«
»Unsinn! Haben Sie nicht bemerkt, daß wir ihn beim Schreiben störten?«
»Ja.«
»Eh bien, als ich in jüngeren Jahren bei der belgischen Polizei tätig war, lernte ich, daß es sehr nützlich sei, auf dem Kopf stehende Handschriften zu entziffern. Soll ich Ihnen erzählen, Hastings, was er in jenem Brief schrieb? >Geliebte, ich vermag die entsetzliche Wartezeit kaum zu ertragen. Jane, mein angebeteter, mein schöner Engel, es gibt ja keine Worte, die Dir beschreiben könnten, was Du mir bist. Du, die Du so unsagbar gelitten hast! Deine herrliche Seele .. .<«
»Poirot!« unterbrach ich ihn entsetzt.
»Jawohl, so weit war er gekommen: Deine herrliche Seele kenne nur ich.« »Schämen Sie sich, Poirot!« schrie ich meinen Freund an, den die vollbrachte Leistung mit naivem Stolz erfüllte. »Schämen Sie sich, daß Sie sich so weit vergaßen, einen privaten Brief zu lesen. Das ist kein ehrliches Spiel.«
»Warum ereifern Sie sich, mein Lieber? Mord ist überhaupt kein Spiel, sondern eine verteufelt ernste Angelegenheit. Und außerdem gebraucht man diese Redensart nicht mehr, habe ich herausgefunden. Ehrliches Spiel! Die hübschen jungen Mädchen würden Sie wegen Ihrer altfränkischen Ausdrucksweise verlachen, mein guter Hastings.«
Ich ging verstimmt neben ihm her.
»Und unnötig war es überdies«, sagte ich nach einer Weile grollend. »Wenn Sie ihm mitgeteilt hätten, daß Sie Lord Edgware auf Jane Wilkinsons Verlangen aufsuchten, würde er Ihnen eine ganz andere Behandlung zuteil werden lassen.«
»Das konnte ich doch nicht, mon cher. Jane Wilkinson ist mein Klient, und die Angelegenheiten eines Klienten darf ich keinem Dritten anvertrauen. Das hieße unehrenhaft handeln.«
»Unehrenhaft!«
»Ja, unehrenhaft.«
»Aber sie wird ihn doch heiraten«, erinnerte ich.
»Bedeutet das etwa, daß sie keine Geheimnisse vor ihm hat . ? Auch Ihre Ansichten über Heiraten sind altfränkisch, Hastings, nein, was Sie vorschlagen, konnte ich nicht tun. Ich habe meine Detektivehre zu wahren, und die Ehre ist ein sehr heikles Ding.«
»Ja. Aber mir scheint, daß man sie in der Welt verschieden auffaßt«, gab ich eifrig zurück.
19
Am folgenden Morgen saß ich in meinem Zimmer, als Hercule Poirot mit funkelnden Augen die Tür aufriß.
»Mon ami, wir haben Besuch.«
»Wer ist es?«
»Die Herzoginwitwe.«
»Wie .? Das klingt ja wie ein Märchen. Was führt sie her?«
»Wenn Sie mich nach unten ins Wohnzimmer begleiten, werden Sie es erfahren.«
Ich beeilte mich, seiner Aufforderung nachzukommen, und betrat mit ihm zusammen das kleine behagliche Zimmer.
Die Herzogin war eine untersetzte Frau mit hoher Stirn und scharfen Augen, aber ihre Gestalt wirkte keineswegs plump. Auch in dem schlichten schwarzen Kleid blieb sie die Dame der großen Welt. Im selben Maß, wie ihr Sohn negativ war, war sie positiv. Eine fürchterliche Willenskraft mußte ihr innewohnen. Ich fühlte förmlich die Wellen von Kraft, die von ihr ausströmten. Kein Wunder, daß diese Frau zeitlebens alle beherrscht hatte, mit denen sie in Berührung gekommen war.
Jetzt führte sie eine Lorgnette an die Augen und studierte erst mich und hierauf meinen Gefährten, an den sie dann das Wort richtete - mit klarer, zwingender, ans Befehlen gewöhnter Stimme.
»Sie sind Monsieur Hercule Poirot?«
Mein Freund antwortete mit einer Verbeugung.
»Zu Ihren Diensten, Madame la Duchesse.«
Nun wurde ich das Ziel der herrischen Augen.
»Das ist mein Freund, Hauptmann Hastings, der, mir bei der Bearbeitung meiner Fälle hilft«, erklärte Poirot.
Sie sah mich ein wenig unschlüssig an und neigte endlich wie zustimmend den Kopf.
»Ich bin gekommen, um Sie in einer sehr delikaten Angelegenheit um Rat zu fragen«, begann sie, während sie sich gemessen in dem Sessel niederließ, den mein Freund ihr anbot. »Ehe ich jedoch weiterspreche, muß ich Sie um völlige Verschwiegenheit ersuchen.«