Ob man mich erkennt oder nicht, werde ich Dir nächste Woche erzählen. Aber ob Erfolg oder Mißlingen - die zehntausend Dollar bekomme ich. Oh, Lucie, was das für uns bedeutet!
Keine Zeit jetzt für mehr - muß sofort zu meinem Possenspiel. Tausend, tausend, tausend Grüße, mein geliebtes Kleines, Deine Carlotta.<
Poirot legte das Kabel nieder, das ihn, wie ich bemerkte, sehr ergriffen hatte. Bei Japp indes brachte es eine ganz andere Wirkung zustande. »Jetzt haben wir ihn gefaßt«, frohlockte er.
»Ja«, erwiderte mein Freund.
Seine Stimme klang merkwürdig gepreßt.
»Was ist denn los, Monsieur Poirot?« fragte der Inspektor.
»Nichts. Es ist nur, irgendwie, nicht ganz so, wie ich dachte. Voila.« Er sah trostlos unglücklich aus. »Aber es muß so sein«, sagte er wie im Selbstgespräch. »Ja, es muß so sein.«
»Selbstverständlich ist es so; Sie mit Ihrer Pfiffigkeit haben das ja schon längst prophezeit.«
»Nein, nein. Sie verstehen mich falsch, Japp.«
»Haben Sie nicht immer gepredigt, es sei jemand im Hintergrund, der das ganz ahnungslose Mädchen zu jener Maskerade überredet hätte?«
Poirot seufzte und entgegnete nichts, so daß der Inspektor fortfuhr: »Sie sind ein wunderlicher Heiliger! Nie zufrieden. Ich meine, wir können von Glück sagen, daß Miss Adams diesen Brief schrieb.«
Und plötzlich pflichtete ihm Poirot mit mehr Heftigkeit bei, als er je zuvor an den Tag gelegt hatte.
»Mais oui, mais oui, das ist es ja, was der Mörder nicht erwartete. Als Carlotta Adams die zehntausend Dollar annahm, unterzeichnete sie ihr Todesurteil. Er schmeichelte sich, alle Vorsichtsmaßregeln getroffen zu haben - und sie überlistete ihn, in aller Unschuld. Die Tote spricht. Es ist in meiner Praxis nicht das erstemal, daß die Toten sprechen.«
»Ich habe nie geglaubt, daß sie auf eigene Faust handelte«, sagte Japp mit kaum glaublicher Unverfrorenheit. »So, und nun muß ich die weiteren Maßnahmen treffen.«
»Sie wollen Hauptmann Marsh - Lord Edgware, meine ich verhaften?«
»Weshalb nicht? Kann noch der geringste Zweifel an seiner Schuld bestehen ... ? Ich begreife Ihre Niedergeschlagenheit nicht, Monsieur Poirot. Statt stolz zu sein, daß Ihre eigene Theorie sich siegreich behauptet, sitzen Sie trübselig da. Sehen Sie denn irgendeine brüchige Stelle in dem Beweismaterial?«
Hercule Poirot schüttelte den Kopf.
»Ob Miss Marsh sein Helfershelfer war, weiß ich nicht«, führte der Inspektor aus. »Der gleichzeitige Opernbesuch läßt es fast vermuten. Nun, ich werde ja hören, was die beiden sagen.«
»Darf ich der Vernehmung beiwohnen?« Beinahe demütig klang die Frage.
»Das versteht sich von selbst, nachdem wir die ganze Anregung Ihnen überhaupt verdanken.«
Während er das Kabel in seinem Schreibtisch verschloß, zog ich meinen Freund beiseite.
»Wo fehlt's denn, Poirot?«
»Ich bin sehr unglücklich, Hastings. Obwohl die Rechnung so glänzend aufzugehen scheint, steckt irgendwo ein Fehler. Alles greift genau ineinander, wie ich es mir ausmalte - und dennoch, mon ami, hapert es irgendwo.« Kläglich, jammervoll blickte er drein. Womit sollte ich ihn trösten?
21
Ich fand mich in meinem Freund nicht mehr zurecht. Was plagte er sich, nachdem die Dinge eine Entwicklung nahmen, die er längst vorausgesagt hatte, mit mißmutigem Grübeln?
Auf der ganzen Fahrt nach Regent Gate saß er brütend, mit finster gerunzelter Stirn, neben uns und schenkte Japps selbstzufriedener Fröhlichkeit keine Beachtung.
»Auf alle Fälle können wir ja hören, was er zu sagen hat«, fuhr er schließlich seufzend aus seiner Versunkenheit auf.
»Wenn er klug ist, hält er den Mund«, meinte der Inspektor.
»Es haben sich schon eine ganze Menge selber dem Strick des Henkers ausgeliefert, weil sie zu sehr darauf bedacht waren, einen Bericht zu geben. Uns Kriminalbeamten kann niemand nachsagen, daß wir sie nicht warnen . ! Und je schuldiger sie sind, desto eifriger stimmen sie ihre falsche Weise an und ahnen nicht, daß sie ihre Lügen lieber erst mal einem Anwalt unterbreiten sollten. Oh, diese Anwälte!« Er stöhnte. »Anwälte und Vorsitzende der Leichenschau! Was nützt die mühseligste polizeiliche Ermittlungsarbeit, wenn solch ein Vorsitzender in einem vollkommen klaren Fall alles über den Haufen wirft und den schuldigen Teil laufen läßt? Den Anwälten kann man ihr Vorgehen nicht einmal so sehr zum Vorwurf machen. Sie werden für ihre List und die Verdrehung der Tatsachen bezahlt.«
Bei der Ankunft in Regent Gate erfuhren wir, daß unser verfolgtes Wild im Bau war. Man saß noch beim Lunch, und Japp bat um eine sofortige Unterredung mit Lord Edgware allein.
Wieder wurden wir in die Bibliothek geführt. Ronald trat nach wenigen Minuten herein, ein leichtes Lächeln auf dem Gesicht, das sich etwas veränderte, als er unsere kleine Gruppe mit einem raschen Blick überflog. Seine Lippen strafften sich.
»Hallo, Inspektor, was bedeutet das?«
Japp sagte seinen Spruch in der alten, beinahe klassisch gewordenen Form her.
»So, so. Also so weit sind wir!« meinte Lord Edgware.
Er zog einen Stuhl zu sich heran, setzte sich und holte sein Zigarettenetui aus der Tasche.
»Inspektor, ich möchte Ihnen ein Geständnis machen.«
»Ganz wie es Ihnen beliebt, Mylord.«
»Selbst auf die Gefahr hin, daß Sie mich hinterher für einen Toren halten. Ich habe nämlich keinen Anlaß, die Wahrheit zu fürchten, wie die Romanhelden immer so schön sagen.«
Inspektor Japp erwiderte nichts, sein Gesicht blieb bewegungslos wie eine Maske.
»Sehen Sie, da drüben ist ein handlicher Tisch und Stuhl«, fuhr der junge Mann fort. »Nehmen Sie dort Platz. Dann können Sie meine Aussage gleich bequem stenografieren.«
Vermutlich begegnete es dem Beamten Scotland Yards nicht häufig, daß sich ein des Mordes Verdächtiger um die Bequemlichkeit seines Häschers sorgt!
»Und nun zur Sache! Da ich nicht ganz auf den Kopf gefallen bin, nehme ich an, daß mein wunderschönes Alibi in Rauch aufgegangen ist, wie? Aus mit den nützlichen Dortheimers. Taxichauffeur, ja?«
»Uns sind Ihre sämtlichen Schritte in jener Nacht bekannt«, sagte Japp steif.
»Ich habe immer die größte Bewunderung für die Tüchtigkeit Scotland Yards gehabt. Aber wissen Sie, Inspektor, wenn ich wirklich eine Gewalttätigkeit geplant hätte, würde ich bestimmt in kein Taxi geklettert und schnurstracks zum Hause meines Onkels gefahren sein. Und ebenso bestimmt hätte ich das Auto nicht warten lassen. Haben Sie das nicht bedacht . ? Ah, Monsieur Poirot, Ihnen sind wohl derartige Bedenken gekommen?«
»Ja.«
»Ein wohlüberlegter Mord wird anders in Szene gesetzt«, fuhr Lord Edgware fort. »Man klebt sich meinetwegen einen roten Schnurrbart an, versteckt sich hinter einer großen Hornbrille, fährt bis zur nächsten Straßenecke und entlohnt den Chauffeur. Oder nimmt die Untergrundbahn . na, lassen wir das! Für ein paar tausend Guineas wird Ihnen mein Advokat das besser schildern als ich. Ihre Antwort, Inspektor, weiß ich schon im voraus: keine vorbereitete, sondern aus einem jähen Impuls geborene Tat. Aber auch das stimmt nicht, sondern in Wirklichkeit verhält sich alles folgendermaßen: Ich brauchte Geld, brauchte es dringend. Wenn ich es nicht bis zum nächsten Tag beschaffte, war ich ein verlorener Mann. Mein Onkel? Er liebte mich nicht, doch ich glaubte, es sei ihm vielleicht an der Ehre seines Namens etwas gelegen. Ältere Herren werden bisweilen von solchen Gefühlen beherrscht. Mein Onkel jedoch erwies sich in seiner schamlosen Gleichgültigkeit als bedauernswert modern.