»Einem Menschen von der Art des Herzogs von Merton?«
»Ich kenne den Herzog nicht, immerhin scheint er die Pflichten seiner Stellung ernst zu nehmen. Leider läuft er jetzt jenem Frauenzimmer nach - jener herrlichen Jane Wilkinson.«
»Seine Mutter ...«
»Oh, seine Mutter würde fraglos Geraldine als Schwiegertochter vorziehen. Doch was können Mütter tun? Söhne wollen nie die Mädchen heiraten, die die Mütter für sie aussuchen.«
»Glauben Sie, daß Miss Marshs Vetter ihre Neigung erwidert?«
»Das spielt doch in seiner jetzigen Lage keine Rolle.«
»Ah, Sie denken, daß man ihn schuldig sprechen wird?«
»Kann ich das wissen .? Jedenfalls halte ich ihn nicht für den Mörder.«
»Nun will ich Sie nicht länger stören, Mademoiselle.« Poirot erhob sich. »Kannten Sie übrigens Carlotta Adams?«
»Ich sah sie auf der Bühne. Sehr witzig und gescheit.«
»Ja, sie war gescheit.« Er versank in Nachdenken. »Ah, ich habe meine Handschuhe dort drüben hingelegt.«
Während er den Arm ausstreckte, um sie von der Tischplatte fortzunehmen, verfing sich sein Ärmelaufschlag in der Kette von Miss Carrolls Kneifer und riß ihn herab. Poirot erging sich in einem Schwall von Entschuldigungen, hob ihn samt den Handschuhen, die ebenfalls hinuntergefallen waren, auf und gab ihn seiner Eigentümerin zurück.
»Zürnen Sie mir nicht allzusehr, Mademoiselle«, schloß er, »obwohl Sie wahrlich Grund hätten. Erst die späte Störung, und jetzt noch diese Ungeschicklichkeit ...! Übrigens, die Störung: Ich gab mich der Hoffnung hin, von Ihnen eine Andeutung zu erhalten, daß Lord Edgwares Reise nach Paris mit persönlichen Unerquicklichkeiten zusammengehangen habe. Nein, nichts Derartiges . ? Also eine verlorene Hoffnung! Nun, dann gute Nacht, Mademoiselle. Und tausendmal Pardon für die Belästigung.«
Wir hatten die Tür erreicht, als Miss Carrolls Stimme uns zurückrief.
»Monsieur Poirot, das sind nicht meine Augengläser. Ich kann mit ihnen nichts sehen.«
»Comment?« Hercule Poirot blickte die Sprecherin bestürzt an. Aber dann verzog sich sein Antlitz zu einem breiten Lächeln. »Oh, ich unglaublicher Dummkopf! Als ich mich nach Ihrem Kneifer und meinen Handschuhen bückte, fiel mein eigener mir aus der Tasche, und da habe ich die beiden Paare verwechselt. Sie gleichen sich nämlich sehr. Bitte, überzeugen Sie sich.«
Mit Lächeln auf beiden Seiten wurde der Austausch vollzogen, worauf wir endgültig Abschied nahmen.
»Poirot«, sagte ich, als wir draußen waren, »Sie tragen doch gar keine Augengläser!«
Er blinzelte mir zu.
»Welch ein durchdringender Scharfsinn, Hastings!«
»Mithin war es der Kneifer aus Carlottas Täschchen. Glaubten Sie, er könnte Miss Carroll gehören?«
Poirot zuckte die Achseln.
»Sie ist die einzige Person aus Lord Edgwares Umgebung, die Gläser trägt.«
»Aber es sind nicht die ihrigen.«
»So sagt sie.«
»Oh, Sie argwöhnischer alter Teufel!«
»Durchaus nicht. Höchstwahrscheinlich sagte sie die Wahrheit, denn sonst wäre ihr die Verwechslung schwerlich aufgefallen. Ich machte es doch sehr geschickt, was?«
Wir schlenderten durch die Straßen, mehr oder weniger aufs Geratewohl. Einmal schlug ich vor, ein Taxi zu nehmen, aber Poirot schüttelte den Kopf.
»Ich muß nachdenken, mon cher. Und das Gehen hilft mir.«
Folglich schwieg ich. Die Nacht war schwül, daher hatte ich keine Eile heimzukommen.
»Das Rätsel um den Buchstaben D ist noch völlig ungelöst«, warf ich nach einer Weile hin. »Seltsam, daß keine einzige der in den Fall verwickelten Personen einen Namen hat, der mit D beginnt; ganz egal, ob Tauf- oder Familienname. Halt! einer doch! Nämlich Donald Ross. Und der ist tot.«
»Ja«, sagte Poirot düster. »Der ist tot.«
Ich dachte an eine andere Nacht, als wir zu dritt heimgewandert waren. Und plötzlich erinnerte ich mich noch an mehr.
»Bei Gott, Poirot«, meinte ich. »Entsinnen Sie sich, was Ross über den dreizehnten Tischgast sagte? Er war der dreizehnte!«
Mein Freund erwiderte nichts. Ich selbst aber fühlte mich ein wenig unbehaglich, wie man sich stets fühlt, wenn sich ein Aberglauben bewahrheitet.
»Sonderbar ist es ... das kann niemand leugnen«, murmelte ich.
»Eh?«
»Ich sagte, daß es sonderbar sei - Ross und die Nummer dreizehn. Poirot, worüber grübeln Sie eigentlich nach?«
Zu meiner größten Verwunderung und - ich gestehe es offen ein wenig auch zu meinem Verdruß, begann mein Freund sich plötzlich vor Lachen zu schütteln. Irgend etwas schien im höchsten Grad seine Lachmuskeln zu reizen.
»Worüber lachen Sie, zum Teufel?« fragte ich scharf.
»Oh! Oh! Oh!« japste Poirot. »Mir fiel ein Rätsel ein, das ich neulich mal hörte. Was ist das? - Es hat zwei Beine, Federn und bellt wie ein Hund?«
»Ein Hühnchen natürlich«, meinte ich gelangweilt. »Das wußte ich schon in der Kinderstube.«
»Ach, Hastings, warum sind Sie so gebildet ... ? Sie hätten sagen müssen: >Ich weiß es nicht. < Und dann hätte ich gesagt: >Ein Hühnchen<; und darauf Sie: >Aber, ein Hühnchen bellt doch nicht wie ein Hund.< Und hierauf wieder ich: >Oh, das setzte ich nur hinzu, um es schwieriger zu machen.< Hastings, nehmen wir einmal an, das sei die Erklärung für den Buchstaben D!«
»Lächerlicher Einfall!«
»Der großen Menge mag es so erscheinen. Oh, wenn ich doch jemanden hätte, den ich fragen könnte .«
Wir gingen gerade an einem großen Kino vorüber. In dichten Scharen strömten die Leute aus den Türen. Sie unterhielten sich über ihre Angelegenheiten, über ihre Dienstboten, ihre Freunde des anderen Geschlechts, und hin und wieder sprachen einige auch über den Film, den sie gesehen hatten.
Mit einer solchen Gruppe kreuzten wir die Euston Road.
»Martin Bryan war doch wieder wundervoll ...«, schwärmte eine junge Dame. »Ich versäume keinen Film, in dem er spielt. Wie er da heute die Klippen hinabritt und just noch zur rechten Zeit mit den Papieren ankam ...!«
Ihr Begleiter war weniger begeistert.
»Eine blöde Geschichte!« tadelte er. »Wenn sie nur so viel Verstand gehabt hätten, einfach die Ellis zu fragen, wie jeder vernünftige Mensch getan haben würde .«
Der Rest ging im Lärm des Verkehrs verloren. Als ich den jenseitigen Bürgersteig erreicht hatte, wandte ich mich um und sah Poirot mitten auf dem Fahrdamm stehen. Und von beiden Seiten jagten die Autobusse auf ihn zu. Instinktiv legte ich die Hand vor die Augen. Dann gab's ein fürchterliches Kreischen von Bremsen, eine reiche Flut von Schimpfworten aus den Kehlen erboster Chauffeure.
Würdigen, gemessenen Schrittes begab sich Hercule zu dem Fußsteig ... wie ein Schlafwandler sah er aus.
»Poirot, sind Sie verrückt geworden?«
»Nein, mon ami. Eine Erleuchtung überkam mich. Dort, gerade in jenem Moment.«
»Ein verflucht schlechter Moment«, zürnte ich. »Und um Haaresbreite auch Ihr letzter.«
»Gleichgültig, Hastings. Ah, mon cher, ich bin blind und taub und unempfindlich gewesen. Jetzt aber sehe ich die Antworten auf alle meine fünf Fragen. Ja, auf alle. So einfach, so kindisch einfach .«
28
Es wurde ein seltsamer Heimweg.
Poirot arbeitete offenbar irgendeinen Gedankengang in seinem Hirn aus. Gelegentlich gab er Laute von sich, die einem dumpfen Knurren glichen, und ich glaubte einmal das Wort »Kerzenbeleuchtung« zu erhaschen und ein andermal etwas, das wie »douzaine« klang. Wenn ich wirklich aufgeweckt gewesen wäre, hätten mir diese beiden Worte die Richtung, die seine Gedanken nahmen, gewiesen. Denn es war tatsächlich eine selten klare Fährte. Aber damals klang es mir wie Kauderwelsch.