»Sie ist von Einzelvisionen besessen«, lächelte Poirot. »Immer nur eine einzige Sache zur Zeit.«
»Und ist davon nicht abzubringen«, ergänzte Martin Bryan. »Wie die Leute das ertragen, verstehe ich nicht.«
»Man erträgt viel von einer schönen Frau, mein Freund.« Lustig blinzelten Poirots kluge Augen. »Wenn sie eine Mopsnase hätte, einen fahlen Teint und fettiges Haar - ah, dann änderte sich das Bild.«
»Auch so bringt sie mich bisweilen in Wut. Und nichtsdestoweniger bin ich Jane zugetan, obgleich ich sie in mancher Hinsicht für nicht ganz zurechnungsfähig halte.«
»Oh, oh! Ich hielt sie im Gegenteil für einen klaren Kopf«, wagte ich zu äußern.
»Vielleicht ist mein Ausdruck nicht gut gewählt, Hauptmann Hastings. Sie versteht ihre Interessen vortrefflich wahrzunehmen; sie besitzt sogar eine reichliche Dosis geschäftlicher Gerissenheit. Aber Recht und Unrecht - diese Begriffe sind ihr fremd.«
»Etwas Ähnliches sagten Sie auch gestern abend schon, wie ich mich erinnere.«
»Meine Herren, wir sprachen eben von Verbrechen . Sehen Sie, es würde mich nicht wundernehmen, wenn Jane ein Verbrechen beginge.«
»Hm ...«, brummte Hercule Poirot gedankenvoll. »Sie haben in so viel Filmen mit ihr zusammengespielt, daß Sie ihr eigentliches Wesen erfaßt haben müßten, Mr. Bryan.«
»Ich glaube sie durch und durch zu kennen«, beteuerte dieser, »und vermag mir darum sehr gut vorzustellen, daß Jane ohne viel Federlesens jemand töten würde.«
»Mithin hat sie ein hitziges Temperament?«
»Fehlgeschossen, Monsieur Poirot! Kalt wie ein Eiszapfen ist sie. Was ich meine, läuft darauf hinaus, daß sie, falls irgendwer ihr im Wege stände, ihn kurzerhand beiseite schaffen würde. Und man könnte sie nicht einmal regelrecht verdammen, denn sie ist in dem Wahn befangen, daß jeder, der mit Jane Wilkinson in Konflikt gerät, zu verschwinden hat.«
Jetzt lag eine anklagende Bitterkeit in seinen Worten, die ihnen bisher gefehlt hatte. Welche Erinnerung mochte sie hervorrufen?
»Sie glauben wirklich, sie würde vor einem Mord nicht zurückschrecken?« fragte Poirot, wobei seine forschenden Augen dem anderen bis auf den Grund der Seele zu dringen schienen.
Bryan atmete hörbar.
»Mein Ehrenwort, ich glaube es. Vielleicht werden Sie sich eines Tages meiner Worte entsinnen ... Ich kenne Jane. Mit derselben Leichtigkeit, mit der sie ihren Morgentee trinkt, würde sie auch töten. Ich scherze nicht, Monsieur Poirot.«
Bei dem letzten Satz war er aufgestanden.
»Ja«, erwiderte mein Freund gemessen, »ich sehe, wie bitter ernst es Ihnen ist.«
Und noch einmal versicherte Martin Bryan: »Ich kenne sie durch und durch.« Mit gerunzelter Stirn starrte er auf die Spitzen seiner eleganten Schuhe. »Und was die andere Sache betrifft, die mich zu Ihnen führte, so sollen Sie darüber in wenigen Tagen von mir hören.« Jetzt blickte er auf. »Nicht wahr, Sie werden sich mit ihr befassen?« Poirot trat ans Fenster und schaute ein Weilchen hinaus.
»Ja«, entschied er endlich. »Ich werde mich mit ihr befassen, weil ich sie interessant finde.« Ich begleitete Bryan die Treppe hinab.
»Was, zum Henker, meinte er mit dem Alter jenes goldzahnigen Burschen?« stieß er hervor, während seine Hand schon auf der Haustürklinke lag. »Ob er dreißig oder vierzig ist - was tut das zur Sache? Vielleicht hat mich Ihr Freund nur foppen wollen.«
»Nimmermehr!« erklärte ich aus ehrlichster Überzeugung. »Das ist nicht Poirots Art. Verlassen Sie sich darauf, daß ihm dieser Punkt bedeutungsvoll erscheint.«
»Na, ich freue mich, daß Sie nicht schlauer sind als ich, Hauptmann Hastings. Ich hasse es, wie ein blöder Tölpel dazustehen.« Dann drückte er mir die Hand und ging davon.
»Poirot«, sagte ich, als ich wieder oben bei meinem kleinen Freund angelangt war, »warum messen Sie dem Alter jenes Schnüfflers so viel Wichtigkeit bei?« »Was? Da muß ich Sie erst mit der Nase drauf stoßen? Armer Hastings!« Er lächelte mitleidig und schüttelte den Kopf. »Was halten Sie überhaupt von unserer Unterredung?«
»Vorläufig dürfte es schwer sein, ein Urteil zu fällen. Wenn wir mehr wissen ...«
»Auch wenn wir nicht mehr wissen, müssen sich Ihnen doch gewisse Eindrücke aufdrängen, mon ami!«
Das Telefon, das in dieser Sekunde schrill zu lärmen begann, bewahrte mich vor der schmachvollen Beichte, daß sich mir gar nichts aufdrängte, und eilig griff ich zum Hörer.
Eine weibliche Stimme sprach, eine scharfe, sachliche Stimme. »Hier ist Lord Edgwares Sekretärin. Lord Edgware bedauert, infolge einer unvermuteten Reise nach Paris die Verabredung mit Monsieur Poirot nicht einhalten zu können. Jedoch würde er, falls es Monsieur Poirot paßt, heute vormittag gegen ein Viertel nach zwölf einige Minuten für ihn erübrigen.«
Ich gab die Botschaft an meinen Freund weiter.
»Selbstverständlich werden wir heute hingehen, Hastings«, erklärte Poirot ohne Besinnen, worauf ich diesen Bescheid in gebührender Veränderung der Telefonmuschel anvertraute.
»Sehr wohl«, erwiderte die scharfe Stimme. »Heute vormittag gegen ein Viertel nach zwölf.«
4
In einem Zustand angenehm prickelnder Erwartung erreichte ich mit Poirot das Haus Lord Edgwares in Regent Gate, ein imposantes Gebäude, in edlen, strengen Linien gehalten, ohne überflüssige Verschnörkelungen und Zierat. Obwohl ich der Psychologie weniger verfallen war als mein kleiner berühmter Freund, hatten die Worte, mit denen Lady Edgware ihres Gatten Erwähnung tat, meine Neugier geweckt, und voll Spannung wartete ich nun darauf, welches mein eigenes Urteil sein würde. Auf unser Klingeln öffnete nicht etwa ein würdiger, weißhaariger Butler, wie es sich für dies Haus geziemt hätte, sondern der schönste junge Mann, den man sich vorstellen konnte. Groß, blond, war er wie geschaffen, um einem Bildhauer für Hermes oder Apollo Modell zu stehen. Trotz seines guten Aussehens aber mißfiel er mir, stieß mich ab durch die Weichheit seiner Stimme und eine vage weibische Art, die ihm anhaftete. Und irgendwie erinnerte er mich an jemanden, dem ich erst kürzlich begegnet sein mußte und der mir dennoch nicht einfiel.
»Bitte mir zu folgen«, flötete er, als wir nach Lord Edgware fragten.
Er führte uns an der Treppe vorüber zu einer Tür ganz im Hintergrund der Halle und meldete unsere Ankunft mit derselben zarten, weichlichen Stimme, der ich instinktiv mißtraute.
Der Raum, den wir betraten, war die Bibliothek. Rings um die Wände liefen Bücherregale; die dunklen, schweren, aber geschmackvollen Möbel wirkten sehr feierlich, entbehrten jedoch der Behaglichkeit.
Lord Edgware, ein stattlicher Fünfziger mit braunem, weißgesprenkeltem Haar, schmalem Gesicht und verkniffenem Mund, erhob sich bei unserem Eintritt. Verbittert und reizbar sah er aus. Seine Augen hatten einen wunderlich verschlossenen Blick. Auffallend wunderliche Augen! stellte ich noch einmal fest.
»Monsieur Hercule Poirot? Hauptmann Hastings?« begrüßte er uns mit frostiger Zurückhaltung. »Nehmen Sie bitte Platz.«
Wir folgten der Aufforderung. Durch das einzige Fenster drang verhältnismäßig wenig Licht in das Gemach, und dieses Halbdunkel trug zu der kalten, ungastlichen Atmosphäre noch bei.
Lord Edgwares lange weiße Finger nahmen einen Briefbogen auf, dessen Schrift ich unschwer als jene meines kleinen Freundes erkannte.
»Ihr Name ist mir natürlich wohlbekannt, Monsieur Poirot. Wem ist er das nicht?« Hercule Poirot quittierte dies Kompliment mit einer Verbeugung. »Allerdings begreife ich nicht, inwiefern Sie diese Sache angeht. Sie haben mir hier geschrieben, daß Sie mich wegen ... meiner Frau zu sprechen wünschten«, schloß er, und die Erwähnung von Jane Wilkinson schien ihn Überwindung gekostet zu haben.
»Jawohl«, sagte mein Freund.