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Nun wollte der Doktor eigentlich noch der Zenkner-Frieda ein paar Anweisungen geben: Da wurde er plötzlich, aus heiterem Himmel, von starker Angst und Beklommenheit angefallen. Zu Hause in Schumburg, das spürte er, musste in seiner Abwesenheit etwas Schlimmes geschehen sein. Etwas Bedrohliches hatte sich dort zusammengebraut über seinem Haus. »Der Höllenzwang!«, fiel es ihm siedend ein. In der Eile des Aufbruchs hatte er ganz vergessen, das Satansbuch wegzuschließen!

So schnell wie an diesem Winterabend war Kittel auf seinem Zaubermantel noch nie durch die Luft gebraust. In Schumburg gelandet, stürzt er ins Haus, stürmt die Treppe empor, reißt die Tür auf - und sieht, was geschehen ist.

Seine Enkelkinder, zwei Jungen, drei Mädchen, hocken am Tisch und beugen sich über das Zauberbuch. Der Älteste fährt mit dem Finger die Zeilen entlang, und gerade des Buchstabierens mächtig, liest er den anderen daraus vor. Unverständliche Silben und Wörter, merkwürdig und geheimnisvoll.

Und während er vorliest, da haben sich, von den Kindern unbemerkt, ein Dutzend Raben in Doktor Kittels Studierstube eingefunden. Keine gewöhnlichen Raben. Raben mit feurigen Augen, mit glühenden Schnäbeln und Krallen. Satansvögel, mit einem Wort. Die hocken nun auf den Regalen und Schränken in der Studierstube. Und mit jedem Wort, das der Junge vorliest, gesellt sich ein weiterer Teufelsrabe hinzu.

Die Kinder sind ahnungslos, Kittel aber erkennt die Gefahr sofort. Jeden Augenblick kann es geschehen, dass die Raben sich auf die Kinder herabstürzen, dass sie ihnen mit Krallen und Schnäbeln den Garaus machen! Der Doktor besinnt sich nicht lange, das kann er sich jetzt nicht leisten. Schon ist er am Tisch, schon entreißt er den Kindern das Buch. Mit lauter Stimme befiehlt er den Raben, hinwegzufliegen, auf einen nahe gelegenen Acker hinter dem Haus.

»Tragt alle Steine zusammen, die dort im Boden liegen, ihr Höllenvögel, und häuft sie am Feldrain auf! Das gebiete ich euch im Namen der sieben Fürsten der Tiefe beim dreifachen Höllenzwang!«

Die Raben müssen gehorchen, sie schwirren zum Fenster hinaus und machen sich an die Arbeit, wie Kittel es ihnen befohlen hat. Der Doktor hat Zeit gewonnen. Gerade so viel, wie er braucht, um die Raben dorthin verschwinden zu lassen, woher sie gekommen sind. Dies tut er, indem er die von dem Jungen vorgelesene Zauberformel »zurückliest«, also von hinten nach vorne: »Ärschlings«, hätte man in Schumburg gesagt.

Mit jedem zurückgelesenen Wort bewirkte der Doktor Kittel, dass einer der Satansvögel vom Acker verschwand und krächzend zur Hölle fuhr. Dann der Nächste, der Übernächste - und weiter so, bis auch der Letzte, der Allerletzte von allen glücklich verschwunden war.

Dem Herrgott sei Dank, die Enkelkinder waren gerettet! Der Doktor Kittel, in Schweiß gebadet, stellte den Dreyfachen Höllenzwang in den Schrank zurück - und dann schloss er ihn weg.

Seither, so heißt es, habe er nie mehr versäumt, das Zauber­buch sorgfältig zu verwahren, bevor er das Haus verließ. Den von den höllischen Raben am Feldrain zusammengetragenen Steinhaufen habe ich selbst noch gesehen. Als ich ein Junge von sechs oder sieben Jahren war, hat mein Vater ihn mir gezeigt: hinter dem stattlichen Haus, das der Wunderdoktor und Zaube­rer Johann Josef Anton Eleazar Kittel dereinst in Schumburg für sich und für seine Patienten errichtet hatte.

Ein Dieb, ein Dieb!

Verwunderlich oder auch nicht: Unter den großen und kleinen Zauberern gibt es auffallend viele Ärzte und Theologen. Dem sei, wie es sei. Auch das Erzgebirge hatte selbstverständlich seinen Zaubermeister, und zwar den Herrn Zauberer Pater Hahn, der vor etwa zweihundert Jahren Pfarrer in der Bergstadt Platten gewesen ist. Die Bezeichnung Pater bedeutet nicht, er sei Angehöriger eines Ordens gewesen: Jeder katholische Priester ist in den böhmischen Randgebieten als Pater bezeichnet worden, so auch der Pater Hahn. Wie der Lausitzer Mühlknappe Pumphutt gehörte er zu den Spaßvögeln seiner geheimen Zunft. Und im Übrigen scheint er nicht nur ein Zauberkünstler gewesen zu sein, der Herr Pater Hahn. Er war auch ein guter Menschenkenner, wie aus der Geschichte vom Messer, vom Bierschlägel und vom Sauerkrautfass hervorgeht.

Damals lebte in Platten der Herr Anton Posselt, ein Fleischer­und Selchermeister, und überdies Gast- und Schankwirt im Schwarzen Ross, einem der größten Gasthöfe weit und breit. Da kann man sich vorstellen, wie viel Leute bei ihm beschäftigt waren: die Fleischergesellen, der Wurstmacher und die Lehrjungen, Köchin und Küchenmägde, zwei Aufwartefrauen, der Hausknecht, das Waschweib, zwei Stubenmädchen und, nicht zu vergessen, der Schankbursch. Sie alle haben ihr gutes Auskommen dort gehabt, beim Herrn Anton Posselt und seiner Frau, der Posselt Hermine - bis der Herr Anton dann eines Tages dahinter gekommen ist, dass ihm jemand Geld aus der Lade gestohlen hat, keinen großen Betrag, zehn, zwölf Kreuzer bloß, aber immerhin.

Den Herrn Posselt verdrießt das. Und was ihn erst recht verdrießt: Ein paar Tage danach fehlt wiederum Geld aus der Lade. Wer mag es gestohlen haben? Dem Herrn Posselt ist völlig klar: Als Dieb kommt nur jemand in Frage, der unter seinem Dach lebt, jemand von seinen Hausleuten. Aber wer? Ein Glück nur, dass es in Platten den Pater Hahn gibt!

Der Herr Posselt bittet also den geistlichen Herrn darum, in der Sache Rat zu schaffen. Und der geistliche Herr ist auch gern bereit dazu. Sicherlich, das bemerkt er wie nebenbei, wird dem Herrn Wirt ja bekannt sein, wie dringend man Spenden benötige für das Dach der Stadtkirche. Nächsten Sonntag, wenn man bei Posselts zu Tisch sitze, möge der Herr Wirt dafür Sorge tragen, dass von den Hausleuten niemand fehle. Und noch was! Ein Fass voll Sauerkraut müsse bereitstehen in dem Raum, wo gegessen wird. Und das Fass müsse noch verschlossen sein.

Am Donnerstag haben wiederum ein paar Kreuzer gefehlt in der Lade, no ja. Und am Sonntag dann, wie man bei Posselts zu Tische sitzt, alle Hausleute sind versammelt, das Fass mit dem Sauerkraut steht in der Stubenecke bereit: Am Sonntag, gleich nach dem Tischgebet, fliegt die Tür auf - und ein tritt der Pater Hahn, umwölkten Gesichtes, mit halb geschlossenen Augen, die Arme weit vor sich hingestreckt.

»Unter diesem Dache ...« Die Stimme des Paters klingt schaurig hohl, als ob sie von jenseits der Welt käme, selbst dem Herrn Posselt wird es ganz zweierlei. »Unter diesem Dache, an diesem Tische . Ein Dieb, ein Dieb! Ein Dieb, der nicht einmal, nicht zweimal - ein Dieb, der den eigenen Herrn, den Herrn Anton Posselt, schon mindestens dreimal bestohlen hat. Wehe ihm! Dreimal wehe!«

Am Tisch des Herrn Anton Posselt, Fleischer- und Selchermeister, auch Gast- und Schankwirt zu Platten im Erzgebirge, herrscht tiefes, beklommenes Schweigen. Die Hausleute ducken sich auf die Suppenteller hinab: der Hausknecht, die Köchin, die Küchenmägde, die Stubenmädeln, der Schankbursch, die Fleischergesellen zusamt den Lehrjungen und dem Wurstmacher - alle ducken sich tief hinab, der Herr Posselt und seine Frau Hermine nicht ausgenommen.

»O Herrgott in deiner Güte!« Der Pater richtet den Blick zur Decke. »Gib, dass der Dieb sich melde, dass er aus freien Stücken sich zu dem Diebstahl bekenne - sonst bin ich gezwungen, die Kunst zu gebrauchen! Du weißt ja, o Herr, was damit gemeint ist.«

Schweigen am Tisch des Herrn Anton Posselt, furchtsames und gespanntes Schweigen. Wer wüsste zu Platten nicht, dass der Herr Pater mehr kann als Brot essen?

»Nun wohl!« Dem Herrn Zauberer Pater Hahn bereitet es wenig Freude, zu einem seiner besonderen Mittel zu greifen: Das merkt man ihm an. Was er ergreift, ist ein langes Messer, das auf dem Posselt’schen Tisch liegt. »Seht es euch an!« Der Herr Pater Hahn hält das Messer in der erhobenen Rechten. »Seht es euch an - und dann richtet den Blick hinüber auf jenes Fass!«