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Kathrin Schmidt

Du stirbst nicht

I. WIMPERNSCHLÄGEODERIN THE TWINKLING OF AN EYE

ES KLAPPERT UM SIE HERUM.

Als ihre Schwester heiratete, hatte die Mutter das Silberbesteck in eine Blechschüssel gelegt, auf eine Alufolie. Heißes Salzwasser darüber. Das saubere Besteck wurde nach einiger Zeit aus der Schüssel genommen und abgetrocknet: Es hatte genauso geklappert. Wer heiratet denn? Sie versucht die Augen zu öffnen. Fehlanzeige. Mehr als Augenöffnen versucht sie nicht. Ist genügsam. Sie kann aber sehr deutlich die Stimme ihrer Mutter hören. Ah, also doch das Besteck! Was sagt ihre Mutter?

Die rechte Hand ist aber viel kälter als die linke

, sagt sie,

und der rechte Fuß genauso.

Warum hat die Mutter eine kalte rechte Hand? fragt sie sich. Muss lächeln, als sie sich vorstellt, sie überprüfe die Temperatur ihrer Füße.

Sie lacht!

sagt ihre Mutter.

Sie verzieht nur das Gesicht.

Hat das ihr Vater gesagt? Aber ja, das war unzweifelhaft die Stimme ihres Vaters! Jetzt möchte sie doch die Augen öffnen. Was hat sie in der Küche ihrer Eltern zu suchen, wo mit Besteck geklappert und die Hand- und Fußtemperatur untersucht wird und sie ihre Augen nicht öffnen kann?

O, where do you come from? From London?

Das hat sie zu ihrer Tochter gesagt. Hat sie? Ein Auge kann sie öffnen. Sie tut es. Vierzehn ist das Mädchen und heute auf eine Sprachreise nach England gefahren. Warum ist sie schon wieder da? Sie heult. Aus irgendeinem Grund heult sie. Deshalb hat sie ja auch englisch sprechen wollen, um sie aufzumuntern. Es scheint nichts zu nützen, dass sie fröhlich ist. Das Mädchen hat Kummer. Aber welchen? Wen könnte sie fragen? Der Blick wandert. Da! Neben der Tochter steht ihr Mann.

My husband

, sagt sie. Darüber wird aber doch hoffentlich gelacht werden …

Nichts.

Wenigstens lächelt der Mann. Je länger sie ihn anschaut, umso seltsamer findet sie sein Lächeln. Angepflockt hängt es zwischen den Wangenknochen wie eine Salzgurke.

Salt cucumber

, sagt sie.

Gibt es das überhaupt auf Englisch?

… geboren am

3.12.1972

, wohnt in Hückelhoven …

Halt! Das ist sie aber nicht! Warum kann sie das nicht so laut ausrufen, wie sie möchte? Verdammt, das muss doch gehen!

Nun regen Sie sich aber mal schön ab, wir kommen ja gleich zu Ihnen!

Wer hat das gesagt? Der junge Mann da? Sie kann, glaubt sie, beide Augen gleichzeitig öffnen. Es geht ein bisschen schwer, irgendetwas scheint auf den Lidern zu liegen. Der junge Mann lächelt, aber das beruhigt sie kaum.

Das ist sie doch nicht! Sie ist vierzehn Jahre älter und wohnt doch nicht in Hückelhoven!

I don’t … I don’t …

Warum kommt sie nicht weiter mit dem Satz? Jetzt sagt der junge Mann den anderen Männern in blauen Kitteln, dass es beinahe so klinge, als ob sie englisch zu sprechen versuche, seit sie hin und wieder wach werde. Die Männer lachen. Sie sucht nach einer Frau. Hinter den Männern steht eine, aber die scheint mit irgendetwas beschäftigt zu sein.

Einer der Männer beugt sich über sie.

Können Sie mich hören?

Sie wird dem doch nicht sagen, ob sie ihn hören kann. Soll er ruhig weiter so brüllen.

Augen zu.

Die Stimme kennt sie. Das ist Inga. Sie scheint jemanden mitgebracht zu haben.

Treten Sie ruhig ein!

, sagt ein Bass, aber Fallgeräusche folgen, darauf ein schadenfrohes Lachen. Warum nur kann sie die Augen nicht öffnen! Sie muss sich zusammenreimen, was da passiert ist. Ihre Freundin Inga wollte sie besuchen, wurde zum Eintreten ermuntert, aber eine tiefe Fallgrube muss hinter der Tür sein. Sie sind hineingestürzt. Unruhig wird sie. Liegt sie eigentlich? Warum? Sie versucht erfolglos, Arme, Beine oder Kopf anzuheben. Das macht sie aber jetzt noch unruhiger, merkt sie. Was ist der Freundin passiert, deren Stimme sie doch so genau gehört hat? Ah, da ist sie ja wieder, regt sich natürlich auf. Bestimmt war es nicht leicht, aus der Grube heraufzukommen, was?

Treten Sie ruhig ein!

, sagt der Bass.

Nach einer Weile wundert sie sich aber doch: Wo bleibt Inga denn? Sie wird doch wohl nicht schon wieder in die Grube gefallen sein?

Sie fährt! Wie der kleine Häwelmann kommt sie sich vor. Kleine Häwelfrau. Das ist schön. Das könnte immer so weitergehen. Nur das Licht blendet. Dass der Mond aus der Nähe so hell ist, hätte sie eigentlich wissen müssen. Hatte aber zuvor nie daran gedacht.

Sie fährt.

Sie fährt!

Wieder kann sie nur ein Auge öffnen. Welch Glück, eine Frau! Die lächelt und scheint neben ihr zu fahren, der Oberkörper ist im Gegensatz zu ihrem aufrecht. Sie möchte ihr sagen, dass sie sich doch auch hinlegen soll, es ist schön, so zu fahren. Sie hat etwas im Mund. Sie kann den Mund gar nicht schließen. Sie möchte die Frau fragen, was sie da in ihrem Mund stecken sieht, aber die Frau nimmt ihren Arm und schließt ihn an einen Schlauch. Ein Netz? Durch das sie fremdgesteuert wird? Himmel, die Angst. Sie möchte sich wehren, aber das Auge klappt zu.

Die Schädelplatte wird abgenommen. Vorsichtig entnimmt ein Roboter eine blutrote Fleischscheibe. Ersatz muss her. Also will der Roboter eine wunderschöne, lichtblaue Steinscheibe einlegen. Wie hieß der Stein doch gleich? Es will ihr nicht einfallen. Ihre Tochter hat so eine Steinscheibe, hat sie als Fälschung bezeichnet, weil sie eingefärbt ist. Aha, dann muss das hier etwas anderes sein. Der Roboter wird ihr ja keine Fälschung in den Kopf packen wollen! Als die Steinscheibe drin ist, wird wieder dunkler, was bis dahin unangenehm hell war. Schummerstündchen. Sie sieht gerade noch ein dünnes, langes, bewegliches Plastikrohr über sich. Wo geht es hin, wo kommt es her? Schade, dass sie den Kopf nicht bewegen kann, sie kann das Rohr einfach nicht verfolgen. Dunkle, braunrote Flüssigkeit bewegt sich darin vorwärts, kollernde Tropfen.

Seit einiger Zeit wirtschaftet eine laute junge Frau um sie herum. Sie redet ununterbrochen. Mit wem redet sie nur so viel? Ist hier noch jemand? Sie kann doch den Kopf nicht drehen, stimmt ja … Nun muss sie die Augen aber wirklich aufmachen, denn irgendetwas verändert sich, sie wird aufgerichtet, angehoben, hingesetzt. Ihr wird schlecht. Da muss sie wohl etwas ganz Komisches gegessen haben.

Der Wortschwall der Frau kommt immer näher.

… Hören Sie mich, Helene? Na ja, ist schwer zu sagen, was? Auf jeden Fall müssen wir bald beginnen, Sie öfter in die Senkrechte zu manövrieren. Das war der erste Versuch heute, hören Sie? Hören Sie? Ich glaube, sie hört …

War das zu ihr gesprochen? Sie weiß es nicht. Möchte schlafen. Ist geschafft.

Dass sie Helene heißt, glaubt sie merkwürdigerweise.

Was hält der Mann da in der Hand? Sieht aus wie ihr Herzschrittmacher. Tatsächlich, er hält ihr den Herzschrittmacher vor die Nase und sagt, dass sie ihn endlich gefunden und herausgenommen haben. Warum nehmen die ihr denn den Herzschrittmacher ab? Sie bringt die Frage nicht heraus. Der Mann lacht sich eins, er lacht sich ins Fäustchen, er hat sie in der Hand, ihren Herzschlag. Sie muss sich wehren, nur nicht einschlafen. Bestimmt wird nachts eingeheizt, ja, gestern war es doch schon so heiß nachts, dass sie dachte, es brennt. Bestimmt haben sie ihr den Herzschrittmacher deshalb abgenommen, weil sie als Einzige noch am Leben ist und sie sich darüber gewundert haben!