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Es ist seltsam, wie festgefügte Auffassungen übereinander herfallen und sich in völlig anderen Zusammenhängen zeigen als bislang. Wie sie einander auslöschen mit nicht viel mehr als einem einzigen Satz eines Kindes.

Sie hat Matthes endlos nachgeschaut vom Fenster aus. Es ist lange her, dass sie das zum letzten Mal tat. Sie studierten noch, er Mathematik, sie Psychologie, und er war von einer Eisbar am Leipziger Marktplatz zur Straßenbahn gerannt. Noch heute sieht sie, wie er läuft. Mit wehendem, langem Haar, hin und her pendelndem Kopf, ausgreifenden Armen und schlenkerndem Schritt, der die Knie regelmäßig aneinanderschlagen lässt. Der Bus sollte ihn nach Hause bringen. Sein Zuhause war eine Wohnung in Wiederitzsch mit Frau und zwei kleinen Kindern. Geboren im Zweijahresabstand, eines im ersten Studienjahr, eines im dritten. Jetzt waren sie im fünften.

Er liebte sie.

Sie hatte ihn nicht geliebt.

Bis sie einmal, als sie gemeinsam Theater spielten, Studentenbühne, seine dürren, sperrigen Schultern sah. Beim Umziehen. In diese dürren, sperrigen Schultern hatte sie sich sofort hineingewünscht und erstaunt beobachtet, wie sie sich veränderte. Einen Mann

in festen Händen

hatte sie sich nicht denken können. Als sie das erste Mal miteinander schliefen, nannte er sie Blauäuglein und redete die gelben Kirschen rot, die vor dem Wohnheimzimmerfenster am Baum hingen. Er hatte nach Angst gerochen und es trotzdem getan. Ihr Sohn Bengt hatte im Nachbarzimmer seinen Mittagsschlaf gehalten. Eigentlich wohnte sie mit ihm gemeinsam in dem

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qm-Zimmer, aber die Nachbarin war für eine Woche nicht da und hatte ihr den Schlüssel überlassen. Bengt war es schließlich gewesen, der sie aus seinen Schultern gerufen hatte. Schnell hatte Matthes sich angezogen. So schnell, dass er wie immer am Tisch saß, als sie mit Bengt hereinkam.

Sie liebte Matthes.

Sie hatte ihm lange nachgeschaut, als er zur Bahn nach Wiederitzsch gerannt war. Ihre Tränen waren die der Aussichtslosigkeit gewesen, die über dieser Beziehung zu hängen schien.

Falls es auch jetzt Aussichtslosigkeit ist, die sie fühlen sollte, ruft sie keine Tränen hervor.

Für ein paar Stunden können Sie die Station verlassen, wenn wir nicht wirklich wissen, wo Sie sind

, sagt die Schwester und zwinkert ihr zu.

Was soll das bedeuten? Helene hat sich natürlich immer abgemeldet bislang, in die Cafeteria oder den weitläufigen Krankenhauspark, aber nie für länger als ein Stündchen. Sie wollen nicht wissen, wo sie ist? Helene gibt es beim nächsten Besuch an Matthes weiter, und der stellt für das Wochenende einen Kurzurlaub in Aussicht. Also doch, denkt sie und ist stolz darauf, es ohne angehängte Frage an Matthes übermittelt zu haben. Leider kann er noch immer nicht Auto fahren. Aber sie ja auch nicht! Nicht mehr! Daran hatte sie noch nicht gedacht.

Wir werden das Auto verkaufen müssen,

sagt sie.

Abwarten

, sagt er.

Immer sagt er abwarten. Es gibt nichts abzuwarten. Dass sie nicht mehr Auto fahren kann, merkt doch ein Blinder mit Krückstock. Sie ist verärgert.

Wer sollte sie für ein paar Stunden nach Hause holen? Sie muss sich überraschen lassen.

Bis morgen.

Der Samstag hat wenig Personal. Eine Schwester für früh, eine für spät, eine für nachts. Dazu zwei Zivildienstleistende. Froh sind die, dass sie abrückt.

Es ist kurz vor zwei.

Die Bettnachbarin hat Besuch von ihrem Freund, ein lustiges Paar, und schon jenseits der siebzig! Er hat ihr Schlüpfer mitbringen sollen, aber bei ihr zu Hause keine gefunden und darum welche gekauft. Es sind Tangas. Sie zeigt ihm einen Vogel. Helene stellt sie sich reizend vor im Tanga, mit ihrem zierlichen, mageren Körper.

Frau Bandner, die Einbeinige, hockt angezogen und fett grinsend wie immer im Rollstuhl und wartet auf den Ehrenamtlichen von der katholischen Kirche, der sie besuchen soll.

Die Ausgetrocknete zittert vor Angst mit ihrer Bettpfanne überm Kopf.

Ob sie hier rausgeht oder bleibt, lässt sie seltsam kalt.

Zehn Minuten nach zwei betritt ein riesiger Feldblumenstrauß das Zimmer. An ihm hängt kein Kärtchen, aber Jürgen, der Ernestine hinter sich ins Zimmer zieht. Überraschung gelungen, denn die beiden wohnen weit weg, in Lübeck. Sind mit Matthes befreundet seit ein paar Jahren. Sie wässern den Strauß, packen Helene in den Rollstuhl und geben der Schwester Bescheid, dass sie mit ihr hinuntergehen wollen in den Park, es ist doch so schönes Wetter. Und unten schippern sie dann über den langen Betonweg zum Nebenparkplatz, der weitgehend unbekannt, vor allem aber kostenfrei ist. Helene staunt darüber, wie schnell Ortsfremde so etwas herausbekommen. Das Umsteigen ins Auto gerät zum Akt — Jürgen hebt ihren Oberkörper an, das linke Bein setzt sie selbst ins Auto, und das rechte hält Ernestine gepackt. Schiebt es mühsam hinterher. Das Zusammenklappen des Rollstuhls — bühnenreif. Schließlich fahren sie los.

Kurze Sätze. Subjekt Prädikat Objekt

. Ich sah euch kommen. Ich freue mich auf zu Hause. Ihr seht gut aus. Du trägst ein schönes Hemd.

Deine Haare sind grau geworden. Du bist geschrumpft.

Du bist geschrumpft? Sie weiß nicht, warum und zu wem sie das sagte, aber Ernestine hat es auf dem Fahrersitz nicht gehört, und Jürgen fragt nach.

Hä? Was bin ich? Betrunken?

Neinneinnein, Jürgen hat Alkoholentzug und eine lange Therapiephase hinter sich und ist seit vielen Jahren trocken.

Bestrumpft

, fällt ihr ein, sie schaut an Jürgen herab, und in der Tat trägt er Ringelsöckchen zu den kurzen Hosen.

Bestrumpft, du bist bestrumpft!

wiederholt sie inständig, und Jürgen rattert los. Spricht so schnell, dass, wenn sie den Satz nach dem Subjekt durchforstet hat in Gedanken, Objekt und Prädikat unwiederbringlich verloren sind für sie.

DieStrümpfedasHemddieHitzederFußpilzdieHände-

dieFüßedieHolzpantoletten.

Mager. Sie zuckt die Schultern, als Jürgen sie fragend ansieht. Wird rot.