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Das war zu schnell für mich

, sagt sie langsam.

Dann spreche ich langsam

, sagt Jürgen schnell.

Alle stehen an der Gartentür und erwarten sie. Sogar Familie Farber von nebenan und Suschkes, deren Haus auf der vorderen Grundstückshälfte steht. Viele Hände schütteln ihre linke, Frau Suschke gibt ihr als Einzige die linke Hand. War Oberschwester in der Uniklinik, kein Wunder.

Helene sieht ihre Kinder, alle fünf, und kann es nicht fassen, dass so viel Fleisch in ihr Platz hatte. Sieht sich aufgehen wie einen Hefekloß, aber Matthes knetet sie schnell zusammen, indem er sie gar nicht mehr loslassen will. Sie erinnert sich daran, dass sie früher klein werden und in seine Achsel rutschen wollte bei unangenehmen Anlässen. Vor dem Staatsexamen. Vor diversen Vorstellungsgesprächen. Dass sie aber recht groß und dick war und ihr das vor solch unangenehmen Anlässen immer doppelt bewusst wurde. Einmal angesichts der Unmöglichkeit, in seiner Achsel Asyl zu suchen, zum anderen aber als nachteiliger Begleitumstand: Prüfer und Arbeitgeber hatten womöglich mit Großen und Dicken nichts am Hut, sodass sie regelmäßig mit eingezogenen Schultern und flatterigen weiten Kleidern am Ort des zu Erwartenden erschien. Polster verstecken war angesagt. Aber ihre schwarze Hose, merkt sie gerade, ist ziemlich weit geworden in den letzten Wochen …

Im Haus gibt es Quarkkuchen. Matthes hat gebacken. Helene isst seinen Kuchen so gern, wie er ihn bäckt, eigentlich, aber bekommt nur ein halbes Stück hinunter. Matthes reagiert seltsam, schickt die versammelte Mannschaft auf einen Spaziergang,

so ungefähr eine Stunde!

und bringt sie ins Bett. Ehe sie sich’s versieht, ist er über ihr, reißt ihr die Kleider herunter, sie hat keine Lust, sie fühlt sich

invalide

, stammelt, möchte es ihm sagen, doch körperlich hat sie ihm nichts entgegenzusetzen. Sie denkt an die vielen Wochen, die er

ohne das

auskommen musste. Ungläubig liegt sie da, unfähig, ein Wort zu sagen. Langsam steigt etwas in der linken, der intakten Körperhälfte auf, das sie zu kennen meint: Abwehr. Sie traut sich nicht, sie zum Einsatz zu bringen. Matthes küsst sie ausgiebig.

Sie weint.

Bestimmt denkt er, sie sei glücklich.

Denkt sie.

Matthes geht den anderen entgegen, schiebt sie im Rollstuhl. Der Kinderwagen für die jüngste Tochter hatte einen Schwenkbügel, man konnte einstellen, ob man ihr ins Gesicht schauen wollte, während man fuhr, oder ob man ihr den Blick in die Welt freimachte. Matthes entschied sich meist für Augenkontakt mit der Jüngsten, Helene für den Weltblick. Jetzt ist sie froh, dass es diese Entscheidung beim Rollstuhl nicht gibt. Womöglich wäre Matthes auf Augenkontakt aus.

Ihre Tränen haben salzige Krusten hinterlassen, die sie wegzuwischen trachtet. Das reicht nicht. Sie kratzt mit den Fingernägeln das Salz von der Haut. Hat sie das eben wirklich erlebt, oder war es einer von ihren undefinierbaren Träumen? Sofort kommt Verzweiflung auf, weil sie das nicht entscheiden kann. Ihr Gesicht zu einer unansehnlichen Fratze verzogen vom Versuch, das erneute Heulen zu unterdrücken. Sie kann den Mund nicht schließen. Schaut nach unten, auf ihre Beine in den schlackernden Hosen. Speichel fädelt Sonnenlichtperlen auf. Die Schnüre ziehen sich in die Länge, bis sie im schwarzen Hosenstoff in noch schwärzeren Flecken enden. Sie will sie zerreißen und wegwischen, aber da hat sie die Rechnung ohne den Wirt gemacht: Weil sie kein Taschentuch hat, gibt es nichts, was sie aus der Welt schaffen könnte. Wie Treidelleinen schlingen sie sich um ihre Hände, die speichelgefesselt im Schoß liegen bleiben — Matthes soll nichts merken.

Matthes merkt es.

Natürlich tut er so, als merke er nichts, und zieht eine Packung Taschentücher aus seiner Hose. Eines fältelt er auf und lässt es über ihren Kopf auf die Hände segeln.

Noch immer kann Helene den Mund nicht schließen.

Später sitzen sie in der Küche beieinander, Ernestine hat Beeren aus ihrem Garten mitgebracht. Wunderbare Himbeeren, schwarze Johannisbeeren. Helene labt sich selbstvergessen. Als eine Beere vom Löffel fällt, ist ihr, als rucke der rechte Arm ihr ein klein wenig entgegen, um sie aufzufangen. Sie schreit leise auf, die anderen schauen erschrocken zu ihr hin.

Da! Meine rechte Hand!

Sie hatte den Bewegungsimpuls deutlich gespürt, auch wenn der Arm sich womöglich keinen Millimeter bewegte. Wachsen Nerven nach? Sind das Phantomimpulse? Wollen sich Verbindungen wieder schließen?

Jürgen juchzt als Erster:

Na toll! Das wird schon wieder!

Die knittrige Blödheit des Spruches wird ihm sofort bewusst, sie kichern verlegen. Jürgen, weil er hoffen möchte, sie habe den Juchzer nicht gehört. Helene, weil sie ihn gehört hat und hoffen möchte, Jürgen habe ihn nicht losgelassen. Sie beschließen wortlos, ihn in den Orkus des Gesagtgehörten eingehen zu lassen. Lottchen zertritt die heruntergefallene Beere, als sie vom Garten in die Küche kommt.

Es geht auf fünf. Sie wird unruhig. Möchte zurück in die Klinik. Traut sich nicht, das zu sagen. Sie sehnt sich nach ihrem Bett und der Ruhe darin, wenn sie die Decke über den Kopf gezogen hat. Von den vielen Menschen um sie herum, es sind noch immer acht, nimmt sie nur die Silhouetten wahr, hört nicht, was sie sagen. Lottchen zerrt, Mareile zickt, Bill zündelt, Bengt zetert, Lissy zärtelt, Jürgen zerredet, Ernestine zählt sie alle. Mit ihr neun. Zwei zu viel für den Siebensitzer.

Matthes zensiert.

Sie zuckt.

Es ist nach zehn. Sofort nach der Rückkehr ist sie eingeschlafen. Dass sie nun wieder wach ist, ist keinesfalls Schicksaclass="underline" Das Licht ging an zum Schichtwechsel, der Rundgang wurde gemacht. Obwohl längst alle schliefen. Helene seufzt. Der Tag passiert Revue.

Hat Matthes wirklich mit ihr geschlafen?

Ihre Finger gehen in den Schlüpfer, sie riecht daran, als sie sie wieder heraufzieht.

Fisch.

Es ist wahr. Es ist wahr!

Vor ein paar Stunden noch hätte sie lieber sagen wollen, dass sie es geträumt hat. Es ist wunderbar, dass sich das glättet und sie nun Traum und Realität in unterschiedliche Laden packen kann. So sehr freut sie sich darüber, dass sie zunächst nicht bemerkt, wie das Erschrecken sich anschickt, die Macht zu übernehmen. Als es plötzlich groß und drohend über ihr steht, ist alle Freude weg.

Sie schaut auf die Uhr. Es ist zehn nach zwölf.

Man macht einen Intelligenztest mit ihr. Legt ihr Reihen von Mustern und geometrischen Figuren vor, aus denen sie in einer bestimmten Zeit jenes herauspicken soll, das nicht passt. Nachdem sie sich eine Weile darauf eingestellt hat, geht das. Dann sind Zahlenfolgen zu ergänzen.

121

,

100

,

81

,

64

— was kommt als Nächstes?

64

,

16

,

4

,

1

, ¼ — was kommt als Nächstes? Mühelos. Allerdings sieht es bei sprachbezogenen Aufgaben ganz anders aus. In einer Reihe von Tieren oder Früchten die nicht passenden zu finden, mag noch angehen, aber in kurzer Zeit so viele Obst- oder Gemüsesorten wie möglich herzusagen, ohne bei zusammengesetzten Wörtern das Grundwort zu wiederholen, fällt unendlich schwer. Buchstabenreihen zu sinnvollen Worten umzuordnen, will ebenso wenig gelingen. Bei Testreihen zum Kurzzeitgedächtnis sieht sie kein Land mehr — soeben vorgelesene, kürzeste Episoden sind nach Sekunden nicht mehr abrufbar, kommen auch nach Minuten nicht zurück. Das hat sie vorher schon bemerkt: Wenn sie etwas tun möchte, etwas holen oder jemandem etwas sagen, hat sie innerhalb eines Augenblicks plötzlich vergessen, was sie holen oder sagen wollte. Sie rollt dann mit dem Rollstuhl zwei, drei Meter zurück, und manchmal kommt es wieder. Meist aber nicht. Man bescheinigt ihr eine knapp durchschnittliche Intelligenz während dieser Untersuchungen.