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Wie dumm ist sie wirklich geworden?

Verunsicherung grapscht nach ihr.

Heute hat sie den Nachmittag frei.

Das klingt, als stünde sie unter größter Arbeitsbelastung. Zum Lachen. Dabei hat sie

familien

frei.

Besuchs

frei. Sie gibt es ungern zu: Es freut sie. Früher beherbergte das Gelände ein riesiges psychiatrisches Krankenhaus, das sie gut kannte. Jetzt hat man hier eine ultramoderne Unfallklinik hochgezogen. Die alten, verstreuten Gebäude stehen noch. In zweien von ihnen residiert eine private Augenklinik. Helene beginnt den Nachmittag mit einer Erkundungsfahrt.

Im Rollstuhl zunächst zum Tierpark. Vor fünfzehn Jahren, zu Bengts achtem Geburtstag, hatten sie eine große Kindertour hierher gemacht. Die Wuhle entlang, die damals stank und nur an wenigen Stellen schaumgebremst anrollte, waren sie mit einer Horde von acht oder neun Bengeln losgezogen. Lissys Kinderwagen brach fast zusammen unter der Last der guten Sachen: Kartoffelsalat, kalte Würstchen und Buletten, drei oder vier Sorten Kuchen, Kinderbowle im verschließbaren Einkochautomaten mit Hahn. Preise für die Wettspiele natürlich. Matthes und sie hatten sich eng aneinander zu lehnen damals, denn ihm stand das Wasser, das er heulte, weil er seine Kinder nicht sehen durfte, bis zum Hals, und ihr ging die Muffe, weil sie sich entschlossen hatte, Bills Vater anzugeben, entgegen den Absprachen mit ihm. Matthes war für seine beiden Kinder unterhaltspflichtig, und sie fand es auf einmal widersinnig, auf Geld zu verzichten, das Bill, nicht ihr, zustand. Sechs Jahre ohne Vater … Nun hatte er hervorzukommen aus der Versenkung.

Zwischenzeit.

Matthes wartete auf das Jugendamt, um seine Exfrau von seiner Existenz zu überzeugen. Sie wartete auf das Jugendamt, um einen Mann zum Vater zu machen.

Sie klammerten, was das Zeug hielt. Sie war in der besseren Position, denn ihr konnte man nicht ans Leder. Auch mit den Kindern sang sie lauter als Matthes, der aber dafür traditionell die besseren Spielideen hatte. Sie tobten, sie war noch gut zu Fuß, über Stämme, auf Klettergerüsten. Auf einmal waren zwei Jungen verschwunden. Ihr Herz schlug, Panik machte sich breit, immerhin befanden sie sich im Park einer ausgedehnten Psychiatrie. Matthes wie immer ruhig und beherrscht, sie von der Seite anherrschend, der Panik wegen. Er überlegte, rannte zur Wuhle, stieg an deren Ufer in einen Schacht und brachte über kurz oder lang die dreckverschmierten Kerlchen zum Vorschein, die grinsten und sich an der Aufregung, die sie verursacht hatten, schließlich zu höchsten Tönen aufschaukelten. Helene und Matthes stimmten, hilflos? ein in das Indianergeheul und überredeten die ganze Bande zum Essen. Während sie daran denkt, zieht ihr der Duft einer Bulette von innen her in die Nase. Plötzlich sieht sie Matthes: Den Kopf leicht eingezogen, den Rücken angebuckelt, steht er voller Spannung am Herd, hat zwei Pfannen darauf gestellt und will das Gas entzünden, um die Klopse zu braten. Das Gas strömt, sie wartet darauf, dass er ein Streichholz anstreicht, aber nichts tut sich, er betrachtet nur gedankenverloren seine Hand, die den Gasknopf festhält. Jetzt hebt er das Gesicht, schaut zu ihr herüber. Seine sehr alten Augen schauen durch sie hindurch, weit hinter ihr muss ein lohnenderes Ziel für seinen Blick auszumachen sein. Als sie die Augen schließt, kommt es zur Explosion, denn als sie sie wieder öffnet, sieht sie seinen enthäuteten Schädel auf sich zurollen.

Na, Helenchen, schlafmer schonn widder?

Ja, sie hat geschlafen. Der Zivi hat sie dabei erwischt, ist auf dem Heimweg und grüßt halbwegs freundlich. Eine halbe Stunde ist vergangen, seit sie ihr Zimmer verließ. Kein Stehvermögen, hätte sie früher gesagt. Wenn sie es heute sagte, käme der Doppelsinn auf allen vieren von hinten herangekrochen und kappte das Lachen.

Wollte sie nicht schauen, was sie noch kennt? Was sie nicht kennt, schiebt sich eher zwischen den hohen Bäumen hervor: die Krankenhauskirche. Früher eine Ruine, ist sie nun, restauriert, Ort für Gottesdienste und Konzerte. Sie rollt hinein, tiefes Blau: Ein naives Himmelchen mit Sternen wölbt sich über den Altar.

Mit Matthes stand sie nicht vorm Altar. Sie hatten in Henrichshorst geheiratet. Genau dort, wo er kurz zuvor eine Wandzeitung ans Rathaus gepinnt und ihren» Ausreiseantrag «nach China publik gemacht hatte. Es war

1984

, man hatte ihnen keine Wohnung geben wollen. Ihm als Ehebrecher und ihr als Schlampe mit sozialen Bastarden zeigte man, was eine sozialistische Harke war. Zwei Wohnheimzimmerchen bewohnten sie, jedes hatte zwölf Quadratmeter. Der fünfjährige Bengt und Billy in dem einen. Im anderen Matthes und sie, mit dickem Lissybauch. Gemeinschaftsküche, Gemeinschaftsbad im Keller, Gemeinschaftsklo. Die Liege im gemeinsamen Zimmer war neunzig Zentimeter breit. Sie sehnten sich nach den Nächten, in denen sie vergessen konnten, was tagsüber geschah. Matthes fuhr in die Mitte Berlins zur Arbeit als Kalkulator in einem Heizkraftwerk, ein Job, der seiner Ausbildung kaum entsprach, den er aber nach dem Wegzug von seiner Frau einfach hatte annehmen müssen. Drei Kilometer Fahrrad, sechs Kilometer Vorort-Straßenbahn, dreißig Kilometer S-Bahn, zwei Kilometer Bus. Bis zu zwei Stunden brauchte er für eine Tour. Sie dagegen brachte um sechs Bengt in den Kindergarten, drei Fahrradkilometer weiter Billy zur Tagesmutter, fuhr sechs Kilometer mit der Vorort-Straßenbahn und zwanzig mit der S-Bahn, ehe sie die letzten vier eine andere, innerstädtische Tram nutzte und so ihre Berliner Klinik erreichte, in der sie ein sechsmonatiges Praktikum zu absolvieren hatte, um der Arbeit in der neurologisch-psychiatrischen Kinderabteilung des Krankenhauses Henrichshorst gewachsen zu sein. Bleiben konnte sie dort nur bis

14

Uhr, denn

16

Uhr schloss die Tagesmutter ihre Pflegestelle. Die Berliner Klinik meldete das nach Henrichshorst, und sie bekam nur noch einen Bruchteil ihres Gehaltes, das eigentlich in voller Höhe für die Dauer des Praktikums vereinbart worden war. Ihnen war kalt geworden. Immer Punkt neunzehn Uhr hatte sie die beiden Jungen bettfertig auf der Liegenkante sitzen, versuchte dann, Bengt noch etwas vorzulesen, während sie Billy im Arm wiegte. Meist schlief sie in jenem Moment ein, da Matthes nach seinem langen Tag über die nicht vorhandene Schwelle im Wohnheim trat. Staffelstabübergabe. Er brachte die beiden ins andere Zimmer und legte sich zu ihr, sie lagen beide auf der Seite, ihr Hintern in seiner Schoßbeuge, damit die Liege Platz hatte für sie.

An einem Wochenende, das für so etwas wie Erholung nicht ausreichte, bastelten sie. Ihre Gesichter montierten sie in einen Demonstrationszug chinesischer Arbeiter. Chinas Bevölkerung überschritt gerade die Milliardengrenze. Sie teilten mit, dort habe man ihnen eine Wohnung in Aussicht gestellt, weswegen sie ihre Ausreise nach China forcieren wollten. Falls aufgrund politischer Interessen ihr Weggang nach China nicht genehm sei, schrieben sie, würden sie nach Kasachstan ziehen. Dagegen konnte ja nun wahrlich niemand etwas haben, denn Kasachstan war eine Unionsrepublik innerhalb des großen Sowjetreiches. Fünfzehn davon gab es, sie machten sie zu fünfzehn Fingern an drei Händen, mit denen die Sowjetunion sie angeblich lockte. Die Wandzeitung hing keine halbe Stunde.

Dafür kam zwei Tage später eine Nachricht von Matthes’ Betrieb, dass man bereit wäre, ihnen eine Wohnung zu geben, falls sie heirateten.

Nie hatte sie heiraten wollen.