Выбрать главу

Kaum war Matthes’ Scheidung durch, heirateten sie.

Im Karlshorster Schlafzimmer steht ein Bett von zwei Meter Breite.

Darüber wölbt sich ein naives Himmelchen mit Sternen.

Als sie aus der Kirche rollt, sieht sie Pfarrer Wittusch. Er kommt die Allee entlang, langsam, zu Fuß. Seine Ärmel flattern wie Fledermausflügel. Scheint nachzudenken? Erkennt sie nicht, natürlich. Woher kennt sie ihn? Ach ja: Gleich nachdem sie ihre erste Wohnung bezogen hatten, ein Dreivierteljahr nach der Hochzeit, Lissy war schon sechs Monate alt, besuchte er sie. Er war auf der Suche nach Kirchenmitgliedern, die sich in den eben aus dem Boden gestampften Plattenbauten hatten ansiedeln lassen. Sie luden ihn zu Tee und Gespräch, das war viel damals für einen wie ihn, der an der Mehrzahl der Türen abgewiesen wurde. Ihr fiel ein, dass sie getauft worden war, weil ihre christlichen Großeltern damals noch lebten und nicht vor den Kopf gestoßen werden durften. Diese Tatsache floss wie ein stilles Band um Wittusch und sie, während Matthes seinen atheistischen Zuschnitt deutlich herausstrich. Trotzdem hatten sich die Männer etwas zu sagen, glaubt sie sich zu erinnern. Sie sieht Wittusch lachend am Tisch in der Diele sitzen. Als er ging, war er froh, an diesem Tag doch noch irgendwo eingelassen worden zu sein.

Gott …

… hörst du mich?

O Gott, was ist aus der Alkoholikerabteilung geworden …

Das Haus steht leer und schweiget, und aus den Fenstern steiget

die weiße Birke, wunderbar,

variiert Helenes Aphasie den alten Claudius. Unwillkürlich verzieht sich der Mund zu verlegenem Lächeln, das sie niemandem erklären kann. Es ist nämlich niemand da, es zu sehen.

Sie steht auf der langen Betonpiste zum Nebenparkplatz und schaut über die Wiese zur alten Alkoholentzugsstation. Wenige Male hatte sie die von innen gesehen. Damals arbeitete sie ehrenamtlich als Betreuerin einer jungen Frau aus der Nachbarschaft. Deren beide Kinder hatte man im Heim untergebracht, weil sie trank. Eine intelligente Chemielaborantin mit Abitur. Bestimmt hatte sie schon zehn Jahre lang nicht mehr an sie gedacht. Ob sie die Frau wiedererkennen würde, wenn sie ihr begegnete? Als sie sich zu erinnern versucht, sieht sie ein verlebtes, ledriges Gesicht, das unaufhörlich alterte. Mit Anfang zwanzig! Irgendwie hatte Helene sie zum Entzug zwingen wollen, obwohl sie gewusst hatte, dass das nicht funktionierte. Ein paar Tage lang hatte sie das Mädchen mit dem alten Gesicht täglich auf Station besucht, dann war es abgehauen. Heute steht der Klotz da drüben leer. Ein Typenbau für Kinder- und Pflegeheime, vorwendlich. Solche Gebäude verteilen sich über den Ostteil der Stadt, viele leer gezogen. In Marzahn diente eines als Kinderheim. Gerhard fällt ihr ein, der

1989

bis

91

einen Film drehte, mit dem er aus diesem Heim entlassene Volljährige über zwei Jahre begleitete. Die Mädchen waren früh Mutter geworden, die Jungen früh Väter. Einige hatten der Kriminalität nicht entkommen können. Es war kein niederdrückender Film geworden, sondern einer, der auf klare Weise aufräumte mit Illusionen. Man hatte keine mehr, wenn man ihn gesehen hatte. Das war angenehm gewesen.

Gerhard wohnt in der Nähe! Ihr ist nicht ganz klar, wie sie Bordsteinkanten nehmen könnte mit dem Rollstuhl. Außerdem sollte sie ihn anrufen vorher, sonst muss sie sich womöglich sofort auf den Rückweg machen, wenn er nicht da ist.

Schade, kein Telefonverzeichnis.

Geschafft. Ist sie. Hat sie. Hat geschafft, den Nachmittag allein im Freien zu verbringen. Was ihr alles eingefallen ist! Überreizt schließt Helene die Augen, aber die hitzigen Bilder bleiben, wechseln in schneller Folge. Immer wieder Matthes, mit seinem Heutegesicht in alte Zeiten montiert, dabei hat er damals anders ausgesehen.

Sie auch.

Die Ergotherapeutin kommt, zur Abendhygiene. Ihre Hände sind heute beide schlaff, auch die linke, die den Rollstuhl bewegt hat. Carola fährt sie ins Bad, sie zieht sich mit ihrer Hilfe aus. Eigentlich zieht Carola sie aus, sie muss es zugeben. Auf einer Duschliege schiebt sie sie unter den warmen Wasserstrahl. Sie kann aus dem Fenster sehen, während sie langsam, mit unerschütterlicher Ruhe, gewaschen wird. Matthes hat ein duftendes, teuer aussehendes Duschbad mitgegeben. Sie sieht nicht mehr aus dem Fenster, sondern schließt wieder die Augen. Stellt sich vor, Matthes wüsche sie. Wenn er sie früher wusch, wusch sie ihn auch, bis sie unter der Dusche noch ineinandergerieten.

Lange her.

Sie wird rot, als sie die Augen öffnet. Zum Glück keine Regung.

Als sie zurückgefahren wird und vom Rollstuhl ins Bett befördert werden soll, ist ihr, als könne sie sekundenlang stehen.

Matthes’ Schwester Jutka kommt. Helene fängt sofort an zu weinen. Irgendwie ist sie erleichtert, dass sie jetzt weinen kann. Skeptisch wandert sie ihre Gefühle ab. Eigentlich ist sie überhaupt nicht traurig. Was also sollen die Tränen? Sie kann aber auch nicht aufhören zu weinen. Legt ein Lachen darunter. Unten lacht der Mund, oben laufen die Tränen. Was tut die Stimme? Hält sich zurück. Jutka grinst.

Helene erinnert sich: Vor ein paar Jahren hat Jutka ihr erzählt, dass sie und Matthes grinsen mussten, als Oma Hilda begraben wurde. Mit kichernden Gesichtern wären sie, der Zehn- und die Siebenjährige, an den Händen ihrer Eltern zur Kapelle gelaufen, hätten zwischen ihnen Platz genommen und sich sehr geärgert über sich selbst, dann natürlich sei ihnen zum Heulen zumute gewesen, aber sie mussten eben grinsen, was das Fassungsvermögen der Eltern überstieg.

Helene ist nicht tot, sonst könnte sie Jutkas Grinsen nicht sehen. Oder?

Hochwasser.

Hohes Wasser.

Sie versteht nicht gleich, was damit gemeint ist, als der Nachrichtensprecher der Tagesschau, die im Gemeinschaftsraum gerade noch erlaubt ist, weil die» guten «Filme erst Viertel nach acht beginnen, davon spricht. Die nachfolgenden Bildberichte machen es klar. Sie zeigen ein überflutetes Dresden, Wasser in Semperoper und Zwinger. Auch Tharandt und Freital sind heillos überschwemmt. Zwei Talsperren sind übergelaufen, Malter und Klingenberg. Man bringt riskante Frühgeburten bis nach Berlin, weil man nicht weiß, ob Dresdener Kliniken evakuiert werden müssen. Strom und Telefon fallen aus. Im Oberlaufgebiet der Donau bei Passau und Regensburg sieht es nicht viel anders aus. Der Sprecher sagt, dass die Schäden die Folgen aller bisherigen Katastrophen seit dem Zweiten Weltkrieg übertreffen.

Sie schaut auf den Bildschirm. Löffelt einen Becher Joghurt dabei. Es erreicht sie nicht, eine dicke Schicht Gelatine hängt zwischen ihr und dem Gerät. Der Anblick des Wassers stößt etwas an, wovor sie Angst hat, was sie aber nicht benennen kann.

Helenes Herz übt den Überschlag.

Helenes Herz übt den Überschlag, bis es ihn beherrscht.

Mit beherrscht schlagenden Herzen rollt sie zurück ins Zimmer, die Bandner grinst dick, ihre Bettnachbarin schläft schon. Wie heißt sie eigentlich? Sie, mit der sie hier doch am meisten verbindet? Ist es wahr, dass sie ihren Namen gar nicht kennt? Beim Vorbeifahren liest sie das ins Klarsichtfach am Fußende ihres Bettes eingeschobene Zettelchen:

Mittelner, Renja

Renja Mittelner also, sie staunt über sich, dass sie das nicht interessiert hatte bislang.

Aus dem Nachttisch holt sie den Laptop hervor. Das Herz hat ja gerade erst angefangen, den Überschlag zu beherrschen, und in kleinen Episoden galoppiert es noch davon, wenn sie nicht darauf achtet. Es hat mit dem Wasser zu tun. Sie geht ins Textprogramm, untersucht die Dateien dieses Jahres auf das Wort