Wasser
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Du willst schwimmen gehen,
das Meer dröhnt, als lechze es nach dir, und trotzdem höre ich den Sand knirschen unter deinen schönen, großen Füßen, die jetzt über den Tang, die angeschwemmten Hölzer und Steine hinwegsteigen, du bleibst stehen, greifst den rechten Fuß mit der linken Hand, schaust die Sohle von unten an, hast du dich geschnitten? setzt ihn wieder ab, gehst zögernd die letzten Schritte zum Wasser, beginnst plötzlich zu rennen und stürzt dich mit wildem Eifer in die Flut, verschwindest zwischen den Wellen, tauchst wieder auf, winkst mir zu, ich winke zurück, lege den Kopf auf die Knie, das Lächeln auf meinem Gesicht passt nicht, ich will es zurückziehen, aber es bleibt, als hättest du es festgenagelt, hast du es festgenagelt? ich möchte nicht lächeln, du siehst es wahrscheinlich gar nicht von dort aus, kannst mich jedoch erkennen, wie ich hier sitze, den Hintern im Sand, die Knie ans Kinn hochgezogen, die Hände jetzt fest um die Beine gekrallt, sonst würden sie sich wieder ausstrecken wollen, und immer gefalle ich dir, mit ausladendem dunkelrotem Mund und blauen Augen, Blauäuglein hast du mich vor über zwanzig Jahren genannt, ich sah deine Brust mit dem spärlichen Haarwuchs dabei und verging für Minuten, während du abwartetest und mich umdrehtest, jetzt hast du dich selbst umgedreht und liegst ausgestreckt auf dem Rücken, das Salzwasser schaukelt dich, ich möchte dir lieber nicht gefallen, wie soll ich das anstellen? mir fällt gar nichts ein, ich möchte mich hinlegen, einbuddeln lassen im Sand, damit du mich nicht mehr findest, wenn du wiederkommst, obwohl es besser wäre, wenn du mich gar nicht suchtest, einfach gar nicht mehr daran dächtest, dass es mich gegeben hat, für dich, wenn ich getilgt wäre aus deinen kleinen und großen Gedanken, die noch immer stürmisch über mir hereinbrechen, morgens und mittags und abends, da ich an meinen eigenen Angelegenheiten kaue und die deinen so fremd für mich sind, denn unter dem Hemd trage ich noch dieselben Brüste wie damals und finde es daher seltsam, dass deine Berührungen nicht mehr das auslösen, was einmal das Unabdingbare war, meine Leidenschaft, meine besessene Gier, stattdessen fordern deine Berührungen heute, was ich nicht hergeben will, was im plombierten Mund, hinter den verriegelten Augen festsitzt, im Verlies hocken Lust und Verlangen, kleine, vertrocknete Gnome, denen das Blut abhandenkam auf dem Weg durch die Jahre, du hast dich jetzt wieder gedreht, dein Honighaar hat sich in dunklen Zotteln über die Augen gelegt, du streichst es beiseite, schaust in den Himmel, ein Geschwader von Jagdflugzeugen hinterlässt weiße Streifen, auch du hast auf meinem Rücken manchmal mit den Nägeln weiße Streifen hinterlassen, die sich rasch röteten, du hast das Blut erst beiseitegedrückt mit den Fingern, ehe es umso stärker einschoss, und manchmal trug ich blutige Schnecken davon, da! du verschwindest wieder zwischen den Wellen, ich möchte die Augen schließen, um diesen Moment zu dehnen, in dem du nicht existierst, einfach weg bist vom Fenster, das sich nicht öffnet, dabei wäre es schön, eine Aussicht zu haben, in jeder fremden Stadt ist es immer die Aussicht, die ich suche, wenn ich im Hotel die Gardinen beiseiteziehe und hinausschaue, am liebsten sind mir weite Stadtrandsichten über Siedlungshäuser und Felder hinweg zum entfernten Horizont, dessen Oberlippe die Unterlippe presst, ich merke dann meist, dass auch meine Lippen sich aufeinandergepresst haben, und wenn ich nicht aufpasse, rollen Tränen an gegen die Sicht, die ich suchte, auf dass sie mir wieder versperrt wird, warum kann ich nicht weinen, wenn du in der Nähe bist? du würdest endlich merken, dass mein Lächeln nicht stimmt und nicht das fröhliche Blau der Iris, du würdest sehen, dass das fröhliche Blau längst ertrunken ist, aber wenn ich nicht weine, wirst du es womöglich niemals merken, und das Einzige, was ich tun könnte, wäre dann, nichts mehr zu essen, bis ich ganz verschwunden bin, einfach aufhören zu essen bedeutet ja auch, auf den Stoffwechsel mit der Welt langsam, aber sicher zu verzichten, den ich nicht mehr betreiben will, wenn ich den Stoffwechsel mit dir schon so lange nicht mehr fühlen kann, dass mein Haar darüber grau geworden ist, während deines seine Farbe behielt, die Farbe von flüssigem Waldhonig, nach dem es mir früher sogar zu schmecken schien, wenn seine Wellen meinen Mund streiften, was manchmal passierte, wenn ich dir ein Kind reichte und du schnell den Kopf wandtest, weil ein anderes Kind nach dir rief und das dritte womöglich gerade hingefallen war, auf der Treppe saß und heulte, dein schönes, langes Haar wogte an meiner Lippe vorbei, elektrisierte mich, ich hatte dann Mühe, mich möglichst schnell wiederzufinden zwischen den Kindern, die darauf warteten, mit dir und mit mir wegzufahren, zu spielen oder zu essen, sie hatten einander die Staffelstäbe schnell übergeben, kamen und gingen, längst sind sie fortgezogen, wissen gar nicht, dass wir hier oben am Meer sind, für eine Sommerwoche, sehen dich nicht, den alt gewordenen Vater, dessen Knöchel von bläulich-roten Besenreisern schimmern, während die Krampfadern meine Waden erdrosseln, ich wippe dagegen an, wo ich gehe und stehe, Ballen hoch, Ferse ab, Ferse hoch, Ballen ab, siehst du, ein stetiges Wippen ist meine Existenz, selbst hier am Strand hebe und senke ich unablässig die Füße, die weglaufen wollen, mich aber nicht zu tragen vermögen in eine Richtung, die ich dir nicht mitgeteilt habe, die dir ganz fremd ist und in die du nicht schauen kannst, weil du nur mich siehst, immer nur mich, dabei fühle ich mich in deinem Blick wie im Schussfeld, stets in Erwartung feiner, hakenbewehrter Pfeile, die du nie abschießt, denn du bist ja ein guter: Mann, Kamerad, Liebhaber, der niemals etwas tun würde, was schadet, mir und dir und der großen Welt jenseits der Zeitung, die du jeden Morgen liest, wie du auch mich zu lesen vermeinst und nicht merkst, dass ich nicht in deinen Augen zu Haus bin, eher würde ich sagen, wie du in mich hineinliest, so schallt es heraus, aber du willst es nicht hören, greifst stattdessen meinen Kopf mit deinen Händen und nagelst das Lächeln fest, betrachtest zufrieden dein Werk, ehe du Holz hacken gehst oder umgraben oder schwimmen, warum ahnst du nur nicht, was uns blüht, was uns aufgeht, wenn wir einander nicht aus dem Weg treten, der da, wo wir jetzt stehen, längst zu schmal ist für zwei, und da, wo wir morgen stehen werden, vielleicht ganz an sein Ende kommt, und jetzt, wo du so weit draußen bist, dass ich dich beinahe nicht mehr sehen muss, nehme ich beide Hände an die Wangenknochen und reiße die Stifte heraus, dass es zusammenfällt: mein Lächeln, mit ihm stürzt nur ein Weltchen ein, ein kleiner Kosmos, in dessen Zentrum ich eben noch saß und aus dem ich nun aufstehe, mich wundere, wie still sich die Koordinaten ein wenig schräger stellen, nicht mehr im rechten Winkel zueinander, sondern im abgestumpften Verhältnis geben sie mir den Halt, den ich brauche, dir nicht zur Last zu fallen nachher, wenn du an Land kommen wirst, während ich auf und ab trippeln, wippen und dir nicht erklären werde, was gerade passiert ist.
Hat sie das geschrieben? Natürlich. Wenn Matthes sie fragte, was sie da eben gelesen hätte — sie könnte es nicht sagen. Bestimmt ist es gut, nichts über Aphasien lesen zu müssen, denkt sie plötzlich. Dann aber kommt ein Gefühl, das ihr den Zeitpunkt nahebringt, zu dem der Text entstanden war. Kann ein Gefühl so etwas überhaupt? Wie auf dem Wasser schwankt das, was sie denkt, sie kann es kaum halten und greift nach der Reling: Pietro hatte seinen Geburtstag am sechsten Juni in seinem Häuschen bei Anklam gefeiert, und am Tag darauf waren sie hinübergefahren nach Usedom, Lottchen im Schlepptau. Irgendwie hatte Qual in der Luft gelegen, selbst die Erinnerung daran ist eine Qual. Wo sie sich zu zweit bewegten, hatte sie immer gute Miene gemacht, um nicht unbedacht einzureißen, was Matthes mühsam aufgebaut hatte. Als er sich endlich ein Stück von ihr entfernte, um ins Wasser zu gehen, war es zusammengefallen.