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Ihr Lächeln.

Sie hat sehr fest geschlafen. Als gegen vier Uhr die Schwesternschülerin kam, um Puls und Temperatur zu messen, war sie abweisend. Verärgert über die Störung. Das Mädchen hat es nicht gemerkt.

Jetzt liegt sie und denkt.

Was ist Denken?

Denken müsste doch so etwas wie Fortbewegung im Stillen sein, an einer langen Halteleine, sodass man sicher durch die Wildnis der Wahrnehmung kommt. Indem man hin und wieder auf die Halteleine schaut, schirmt man sich ab vor zu vielen Eindrücken. Das Denken verwurstelt sich dann nicht so leicht.

Wo ist ihre Halteleine?

Sie kann sie nicht sehen. Stattdessen flieht ein Gedanke den nächsten, der links von ihr als Häscher auftritt, ehe er rechts als Gejagter die Bildfläche verlässt. Ohne Spuren zu hinterlassen.

Woran denkt sie also?

Daran, dass sie zu denken versucht.

Denke nie gedacht zu haben, denn das Denken der Gedanken ist gedankenloses Denken. Wenn du denkst, du denkst, denkst du, dass du denkst, doch denken tust du nie.

Diesen Spruch hatte ihr Vater immer auf den Lippen, sie hat ihn seit der Kindheit parat, auch jetzt verließ er sie also nicht.

Ich habe den Schlüssel zum Garten, in dem drei Mädchen warten. Die erste heißt Binka, die zweite heißt Bibeldebinka, die dritte heißt Zwicknicknacknobeldebobeldebibeldebinka.

Die Vatersprüche mehren sich offenbar. Da ist schon der nächste:

Seht unsern Hausmeister, Maus heißt er! Unterm Dach meist haust er, wie es heißt, maust er.

Und ehe sie will, kommt ihr noch einer in den — Sinn?:

Die Boxer aus der Meisterklasse zerschlugen sich zu Kleistermasse. Doch aus dem ganzen Massenkleister erhob sich dann der Klassenmeister!

Ja, sie müssen Helene in den

Sinn

gekommen sein. In den Sinn kommt doch aber nur, was die Sinne anspricht.

Aus den Augen, aus dem Sinn!

hatte ihre Urgroßmutter immer gesagt, egal, ob sie nun etwas verloren hatte, was sich nicht wieder anfand, oder ob sie ihren Bruder Walther meinte, der so selten auf ihre langen Briefe antwortete. Im Sütterlin waren die abgefasst. Helene sollte sich ein Sütterlin-Buch mitbringen lassen und nachschauen, ob sie das noch lesen kann. Früher konnte sie in Sütterlin schreiben, hat das aber schon lange nicht mehr probiert. Aber — sie kann ja überhaupt nicht schreiben, wenn sie einen Stift in die rechte Hand nimmt! Weder Latein noch Sütterlin … Mit links müsste sie es probieren. Sie wird ja hier und da weiterhin eine Unterschrift leisten müssen. Die wird anders aussehen als bislang: Das H hatte sie einfach schwungvoll in einen linken und einen rechten Bogen zerlegt, E und L und E als drei unterschiedlich große Exemplare desselben Wesens nebeneinandergesetzt und dann N und E zu einer Linie zerwaschen. Das W des Nachnamens hat sie groß und deutlich geschrieben, die anderen Buchstaben bis auf das Abschluß-L nur als Strich gezeichnet. Wann hatte sie sich das angewöhnt? Die Zeit nach der Hochzeit fällt ihr ein, sie sieht sich am Sekretär in der damaligen Wohnung sitzen und üben. Es dauerte, bis sie» Wesendahl «angenommen hatte für sich.»Das Wesen Dahl «pflegte sie ihr damaliger Chef zu nennen, nicht ohne süffisant zu betonen, dass er ihre Heirat für nicht maßgeblich und sie unter der Hand auch weiterhin für ein passendes Objekt seiner Begierde hielt. Sie sieht sein Gesicht vor sich: Anfang

40

, recht lange Koteletten, obwohl das Anfang der

80

er-Jahre gar nicht mehr modern war, beginnende Halbglatze. Immer im weißen Arztkittel, in dem er sogar frühmorgens aus dem Auto stieg. Seine Frau war Schwester in der Inneren und fuhr ein eigenes Auto. Für ostdeutsche Verhältnisse sehr ungewöhnlich. Sie war krankhaft eifersüchtig, machte ihm Szenen, die nur jene verstanden, die mit ihm arbeiteten: Ihre Art, ihn wutblitzend und schweigend anzustarren, war so laut, dass einem davon der Schädel dröhnte. Begann nicht damals eine angehende Ärztin ihr Praktikum in der Ambulanzabteilung des Krankenhauses? Jetzt fliegt ihr das Gesicht wieder zu … Sie meinte, sich unsterblich in den Chef verliebt zu haben, der sie aber seltsamerweise floh wie der Teufel das Weihwasser. Dabei ließ er eigentlich kein Röckchen anbrennen. Verena? Verena hieß sie, in der Tat. Hatte eine kleine Tochter und wollte Gynäkologin werden wie ihre Schwester, in deren Sprechstunde sie damals ging, als sie mit Lissy schwanger war. Lissy kam schließlich als große blaue Wurst zur Welt, wog

4500

g, nachdem man Helene eine Woche zuvor beim Ultraschall in der Bezirksstadtklinik Untergewicht prophezeit und sie ziemlich rotzig des Rauchens bezichtigt hatte. Ach, eine Zigarette hätte sie jetzt gerne …

Sie kommt zu sich zurück, weil durch das geöffnete Fenster Zigarettenqualm ins Zimmer zieht. Die Flut der Gedanken verebbt, zieht sich zurück, als sie den Duft riecht. Da raucht doch einer Gauloises! Aber sich jetzt in den Rollstuhl zu hieven und zum Fenster zu fahren, fehlt ihr die Energie. Sie lässt sich einlullen. Benebeln.

Matthes teilt den Nebel. Er kommt heute früher als sonst. Helene wird auf der Stelle unruhig, liegt nicht gern im Bett, wenn Matthes kommt, aber hier ist sie ja eigentlich sicher … Oder?

Die Unruhe legt sich nicht. Matthes sieht sie an und lächelt. Ob sich sein Lächeln von ihrem unterscheidet? Ihres ist vermutlich öfter dabei, einzustürzen, während seines sich in Momenten des Verschwindens zu einem breiten, sehr fetten Grinsen wandelt.

Frauen und Männer.

Passen nicht zusammen.

Nun muss sie aber ein wirkliches Lächeln lächeln, das nicht zusammenfällt. Sie nimmt seine Hand und fühlt sich wohl. Die Unruhe scheint hinter dem Lächeln versackt zu sein, sie ist so plötzlich weg, wie sie aufgetreten ist.

Matthes freut sich, dass Helene seine rechte Hand mit ihrer linken festhält und streichelt. Wann hat sie das zum letzten Mal gemacht? Darüber will sie lieber nicht nachdenken müssen.

Sie sehen sich fest in die Augen. Seine dunkelbraune Iris verrät nichts. Trotzdem merkt sie, wie ihr die Sinne ganz vergehen wollen im Eintauchen in diese Farbe. Wie früher. Wie sehr viel früher, als an Trennung noch nicht zu denken gewesen war und sie turtelnd ihre Abende miteinander verbrachten. Die Tage waren dazu da gewesen, die Sehnsucht nacheinander aufzuschaukeln. Kam er nach Hause, war sie es oft genug, die über ihn herfiel, die Tür abschloss. Ihm die Kleider vom Leib riss, während die Kinder unten auf dem Spielplatz die Zeit ebenso vergaßen wie sie.

Seine dunkle Iris war ihr Platz unter Wasser gewesen. Unten, wo das Licht kaum noch hinlangte. Wenn er lag und an die Decke starrte, konnte sie nicht anders, als sich auf ihn zu setzen und ihm in die Augen zu schauen, und über kurz oder lang versank sie dann darin.

Ein fremd gewordenes Fühlen langt nach ihr.

Sie schließt die Augen, weil sie vor Rührung weinen wird. Sie merkt es und ärgert sich, dass sie Matthes an diesen Tränen nicht einfach teilhaben lassen kann.

Frauen und Männer passen wirklich nicht zusammen,

sagt sie leise und langsam.

Ein spöttischer Spruch, der früher ihre Meinungsverschiedenheiten begleitete. Jetzt ist er aus der Peinlichkeit ihrer Heulerei hervorgekrochen und wirft sich hündisch Matthes zu Füßen.

Da hast du recht

, sagt er. Tritt nicht nach ihm. Jagt ihn nicht fort.

Er lacht.

Wenig später hat er Helene in den Rollstuhl gesetzt. Sie fahren über die Stationsetage. Neben ihrem ist ein Zimmer mit Quarantäneschild, sie sieht es jetzt zum ersten Mal. Wundert sich, was auf der

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