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Wenn sie aber Erinnern übt, ist sie gespannt. Verspannt? Ja, auch das.

Heute hat sie sich das Jahr

1988

vorgenommen. Sie war schwanger, im Juni kam Mareile zur Welt. Das größte Ostberliner Neubaugebiet hatte eine Poliklinik, deren Angestellte sie seit Ende

1987

war. Solche Filialen wie die örtliche Kinderneuropsychiatrie oder der Jugend-Gesundheitsschutz waren aus dem Hauptgebäude ausgelagert worden, sodass Helene mit ihren Kollegen ein Stück entfernt davon, in ganz normalen Neubauwohnungen, arbeitete. Am Anfang hatte sie noch kein eigenes Zimmer. Zu viert mussten sie sich die drei Räume der Wohnung teilen. Im größten, das ein Wohnzimmer gewesen wäre, war ein Viertel abgeteilt worden für eine fensterlose Küche. Dort lagerten vorübergehend Akten. Sie konnten sich auch Tee oder Kaffee kochen. Ein Tisch stand darin. Der unglückliche Vierte, der gerade aus Zimmermangel keinen kleinen Patienten bestellt hatte, zog sich in diese Küche zurück. Das führte dazu, dass durch die Durchreiche, eine etwa einen halben Quadratmeter große Wandöffnung mit Glasscheiben, das Gespräch zwischen dem Kollegen und seinem Patienten mit anzuhören war. Hatte sie sich, wenn sie die unglückliche Vierte war, anfangs noch bemüht, besonders ruhig zu sein, damit der Patient ihre Anwesenheit möglichst nicht bemerkte, legte sie bald entschiedenen Widerspruch ein gegen die unhaltbare Situation. Der einzige Mann der Vierergruppe war Parteigruppenorganisator und stets um Abwiegelung jedes aufrührerischen Potenzials bemüht. Sie stand also eines Tages in der Küchenverschlagstür, als er mit seinen Patienten ins potenzielle Wohnzimmer kam und sagte, dass sie gezwungen sei, das Gespräch mit anzuhören. Ob sie unter diesen Umständen überhaupt gewillt seien, die Sprechstunde wahrzunehmen? Er gab sich drucksend und bleich und wusste nicht, was er tun sollte. Hätte ihr Verhalten anzeigen müssen, hatte aber Angst vor dem Unfrieden mit den Kollegen. Sie einigten sich schließlich darauf, mit der im Nachbarhaus residierenden Chefin eine Variante des kollektiven Wegschauens zu praktizieren. Alle wussten, dass einer von ihnen die Wohnung nun lieber verließ, als sich in die besagte Küche zu quetschen. Das ging so hin. Einen Monat um den nächsten rundete sich der Bauch.

Helene legt eine Liste an, was sich an damals üblicher Schwangerenbekleidung in ihrem Schrank fand: ein türkisfarbener, langer Kleiderrock aus Baumwolle, ihr liebstes Stück. Eine schwarze und eine sogenannte Pfeffer-und-Salz-Hose, beide mit großen Elastikeinsätzen am Bauch, für die es Schwangerenblusen brauchte. Davon hatte sie drei: eine aus glänzendem, synthetischem Material, mit Streublümchen bedruckt, deren einziger Vorteil war, dass man sie waschen, aufhängen und anziehen konnte. Sie trocknete rasant und war bügelfrei. Zum Zweiten eine rosafarbene Bluse mit grauer Stickerei am Kragen. Genauso hässlich. Die einzige, die sie gern trug, war aus gepunktetem schwarzem Cord. Hieß er Kindercord? Wahrscheinlich. Leider war sie nicht lang genug, sodass sie die Hosen mit Hosenträgern trug, damit die Elastikeinsätze nicht hervorblitzten. Sie freut sich, denn an diese Kleidungsstücke hatte sie nicht mehr gedacht, seit sie sie weitergegeben hatte. Das war kurz nach Mareiles Geburt gewesen, sie meinte, die sogenannte Familienplanung abgeschlossen zu haben. Ein weiteres Kind hatte sie keinesfalls geplant, vier reichten. Und jetzt kann sie doch tatsächlich olle Klamottenkamellen hervorkramen aus dem Gedächtniskoffer!

Aber da überfällt sie eine andere Erinnerung.

Warum war sie schwanger geworden?

Aus Trotz.

Ja, sie erinnert sich: Vor Mareile hatten Matthes und sie nur Lissy, dazu Helenes Söhne. In Matthes’ erster Ehe hatte es zwei Kinder gegeben. Mindestens zwei wollte sie auch mit Matthes haben, wollte gleich schwer wiegen wie seine erste Frau. Matthes nannte Billy hin und wieder Mischa, wie seinen Zweiten, und dichtete ihm auch dessen Eigenschaften an, was nicht schwer war: Billy war eine Schönheit, wie Mischa auch. Billy war aber nicht sein Sohn. Seltsamer Schmerz peinigte sie, wenn er Billy mit Mischa verglich. Also lud sie Matthes in ein Lokal, eine Weinstube am Haussee, und betrank sich. Trunken mutig, kam sie mit dem Wunsch nach einem vierten Kind heraus. Warum, ließ sie im Dunkeln. Matthes lachte. Merkte der Lage offenbar den Ernst nicht an. Als er’s tat, erbleichte er und sagte mit herber Ruhe, dass er dann seiner ersten Frau auch noch ein Kind machen müsse, sonst würde das Ungleichgewicht der Kinderzahl zu groß. Mit solchem Nachdruck hatte er gesprochen, dass sie glaubte, nie wieder ein Wort an ihn richten zu können. Sie lief hinaus und begann zu schreien. Dann folgte das, was man einen Filmriss nennt, denn wie sie nach Hause gekommen war, weiß sie bis heute nicht. Mit sofortiger Wirkung setzte sie die Pille ab. Matthes tat, als sei nichts geschehen. Irgendwann tat sie auch so. Nach neun Wochen war sie schwanger.

Mareile ist vierzehn und eine Sprachreisende.

Main kyaa káruun …

Neuerlich hebt sich ein Streifen Plane vom Bild: Sie hat Hindi gelernt! Die letzten Wochen vor dem Platzen des Aneurysmas verbrachte sie abends, in Decken eingerollt, auf dem Balkon. Es war lange genug hell. Das Hindi-Lehrbuch war die Kopie einer englischen Ausgabe gewesen. Die anderen Schüler des Kurses konnten durch die Bank besser Englisch als sie. Auch ihr Englisch hatte sie also auf Vordermann bringen wollen. Hatte sie deshalb in den ersten Tagen nach der Narkose versucht, Englisch zu sprechen? Und überhaupt: Niemand wird den Kurs abgesagt, den Leuten Bescheid gegeben haben, dass sie nicht mehr kommen kann. Matthes wusste zwar, dass sie zum Hindikurs ging, aber wohin, bei wem, war ihm unbekannt. Unruhig wirft sich Helene im Bett hin und her. Das muss doch geregelt werden! Als die Schwester kommt, sie fragend anschaut ob der Unruhe, kapituliert sie augenblicklich vor dem langen Anlauf, den sie nehmen müsste, die Kopflosigkeit zu erklären. Zwar weiß sie vorab immer, was sie sagen will, wenn es aber daran geht, es wirklich auszusprechen, nehmen sich Motorik und Kopfchaos nicht vieclass="underline" Sie lassen es nicht zu. Hinzu kommt, dass die Schwester auch nicht gerade so aussieht, als ob sie Zeit hätte. Zeit für langwierige Erklärungen über Hindikurse, die an ihrem Interesse vorbeischlittern. Main kyaa káruun — was soll ich bloß machen … Das war ein Lieblingsspruch der Lehrerin gewesen, deren linker Arm klein und verkümmert unter der Dupatta zum Salwar Kameez verborgen blieb. Wenn sie einen Sari trug, dann hatte sie die Überwurffalten so drapiert, dass der Arm verschwand. Geschickt hatte sie das gemacht, dass es ihr die ersten drei, vier Mal gar nicht aufgefallen war. Etwas anderes als dieser Spruch will Helene aber nicht einfallen. Nur das» hai «am Satzende, das» ist«, das den Regeln unserer Syntax so wenig entspricht, dass wörtliche Übersetzungen oft zum Lachen sind. Aber ein Beispiel kommt ihr nicht in den Sinn, und die Buchstaben, die sie bis zum Tage null so oft und wirklich hingebungsvoll gemalt hat, sind durch den Rost gefallen. Schade. Ohnehin könnte sie so etwas jetzt nicht mehr schreiben. Mit links gelingt ihr ja das Deutsche kaum, ist krakelig, mit Spitzen und überschießenden Schlenkern. Die fremde Hindi-Schrift kann sie vergessen, das wird nichts mehr.

Mutlos geht’s ins Kissen zurück.

Langsam regt sich der Lauersinn. Hat sich noch nie geregt. Als Helene ein Kind war, hatte die Urgroßmutter ein Kissen auf dem Küchenfensterbrett dazu benutzt, sich in Positur zu bringen und auf das die Straße hinauf- und hinabkriechende Volk zu lauern. Autos fuhren selten, man hörte, was die Leute im Vorbeigehen redeten. In die Pausen zwischen den gehörten Sätzen stopfte die Urgroßmutter sehr energisch eigene. Am Gerüchteküchenfenster entstanden so feine Gespinste, die ins Nebenhaus waberten, von dort wiederum hineingepresste Sätze mitnahmen und schließlich über der Kleinstadt hingen als dichtes Gewölk. Manchmal genügte es, hineinzustechen mit einer einfachen Tatsache, und sie lösten sich sehr schnell auf. Blauer Himmel. Hatte man aber keine einfache Tatsache zur Hand, sondern zum Beispiel die Unruhe eines Verdachtes, so konnten sie tage- und sogar wochenlang dort hängenbleiben. Besonders, wenn man sich klärenden Kontakt versagte und stattdessen hinter vorgehaltenem Verdacht in seinen vier oder acht Wänden verharrte. Helene hasste den vorgehaltenen Verdacht ebenso wie den Lauersinn und war hinter einfachen Tatsachen her wie der Teufel hinter der Seele. Jetzt ist sie gewissermaßen gezwungen, zwischen diesen Wänden zu verharren, und der Lauersinn beginnt sich zu regen. Sie möchte schon rechtzeitig wissen, wer heute Dienst tut und wer von wem besucht wird. Wer was isst und wer auf dem Klo raucht. Wer miteinander spricht und wer nicht. Helene lässt die Tür einen Spalt offen, wenn sie ins Zimmer rollt. Das erweist sich als nicht erfolgsträchtig, denn viel zu oft kommt jemand ins Zimmer und schließt sie wieder. Also beginnt sie, die Zeit draußen im Krankenhausflur zu verbringen. Gegenüber vom Nachbarzimmer befindet sich eine schöne, tiefe Fensternische. Die Nische ist schöner als der Ausblick auf den ehemaligen Kohlenhof. Sie stellt den Rollstuhl zur Hälfte hinter den schweren altrosa Samtvorhang. Mal hinter den linken, mal hinter den rechten. So ist sie zumindest von einer Seite aus erst zu sehen, wenn man die Nische fast erreicht hat. Ein Buch hat sie im Schoß liegen, aber sie liest nicht. Das hat sie während der letzten Tage schon versucht, kann es auch. Jedenfalls kann sie ganze Seiten, zwar unter Stocken und Stolpern, vorzugsweise bei Zischlauten, aber unter hervorragender Betonung herunterlesen, doch weiß sie hinterher nicht, wovon die Rede gewesen war. Gestern hatte sie sich einzelne Sätze vorgenommen — mit dem gleichen Ergebnis. Am Punkt angelangt, weiß sie nicht mehr, wie der Satz begonnen hatte.