Mein Gott
,
das merkt doch keiner
…
… denkt sie, bestürzt von der Vorstellung, sie müsste aus eigenen Büchern vorlesen und danach Fragen zum Gelesenen beantworten. Die Leute begreifen doch beileibe nicht, dass sie das nicht kann! Die Atempausen stellt sie sich vor und das Blickdunkel. So peinlich ist ihr die Sache, dass sie sich die Spuckefäden vom Mund wischen muss, die sich vor lauter Aufregung wieder einmal abgeseilt haben.
Es ist gut. Ist genug.
Es
hat einen Arm, ein Bein lahmgelegt und ist im Broca’schen Areal herumgepoltert.
Es
rührt sich nicht, wenn sie daran denken will, sondern hält sich versteckt. Wahrscheinlich scharrt
Es
die verloren gegangenen Wörter über sich zu einem großen Haufen, unter dem
Es
verborgen bleibt.
Es
zieht meisterlich Fratzen über ihr Gesicht und sorgt für freien Spuckefall. Dabei hält
Es
ihr ganzes Denken besetzt, spielt damit wie die Schwarze Witwe mit ihren Spinnenmännchen: Nach jeder Berührung wird das Denken aufgefressen. Bis es neuerlich auftaucht, kann es dauern, und natürlich ist es dann immer wieder ein unbeschriebenes Blatt …
Es
hat Platz genommen.
Es
hat sie nicht gefragt, ob sie ihm einen Stuhl oder wenigstens ein Hockerchen anbieten will, sondern sich einfach hingebrezelt. Da sitzt
Es
nun, und wenn sie
Es
fixieren will, rutscht
Es
in den blinden Fleck. Anders kann sie nicht erklären, dass
Es
sich nicht wirklich zeigt. Sie beschließt, sich damit abzufinden, dass sie nicht wirklich weiß, was
Es
ist.
Heute fällt zum ersten Mal das Wort Heidemühlen. Als sie es hört, sieht sie weite Landschaft mit Windmühlen, sieht dunkle Erika mit violetten Blüten prahlen. So weit das Auge reicht. Wie weit reicht das Auge?
Gestern hatte der Oberarzt sie eindringlich nach Doppelbildern gefragt. Sie kennt keine. Eine perimetrische Untersuchung des Gesichtsfeldes ergab keinerlei Einschränkungen. Etwas wie Stolz zeigte sich auf dem Gesicht des Oberarztes.
Wir hatten den Sehnerv freipräpariert, müssen Sie wissen. Das geht selten ohne Doppelbilder ab.
Wie weit also reicht das Auge?
Mal sehen.
Matthes hat Heidemühlen ausgesucht.
Helene hat uneingeschränktes Vertrauen.
Heidemühlen ist nicht weit weg von Berlin, liegt sogar in der Nähe von Henrichshorst, wo sie gelebt und geheiratet haben … Irgendetwas stimmt nicht. Das Heiraten gehört ja zum Leben, denkt Helene.
Gelebt und geheiratet
kann man also nicht sagen, weil Heiraten bei solcher Formulierung außerhalb des Lebens stattfindet. Oder?
Sie ist unsicher.
Heidemühlen soll sie sicherer machen.
Ich gebe Ihnen noch sechs Wochen im Rollstuhl
, sagt die Physiotherapeutin.
Und dann?
Sie ist erschrocken, fragt sich, ob sie vielleicht doch noch sterben soll an dem, was als
Es
im Verborgenen ruht.
Die Physiotherapeutin meint, dann würde sie wieder anfangen zu laufen.
Sie lacht laut, als sie das hört. Natürlich wird sie nie wieder laufen können, wo soll denn das herkommen, die Kraft der rechten Seite reicht gerade mal aus, sie eine Viertelsekunde zwischen Rollstuhl und Klo verharren zu lassen.
Die Physiotherapeutin nickt, zuckt mit den Schultern. Heute soll versucht werden, den rechten Fuß gemeinsam mit dem linken zu bewegen. Wenigstens ein Stückchen? Sie schreit laut auf, als sie bemerkt, dass sie das rechte Bein vielleicht zwanzig Zentimeter in die Höhe bekommt.
Das machen wir aber gleich noch mal!
Der Sommer lüpft die Lider. Helene hat gute Laune. Sie hat einen Eiskaffee in der Krankenhauscafeteria getrunken und vergnügt sich mit Inga. Wenn sie sagen soll, worin dieses Vergnügen besteht, so könnte sie es nicht auf Anhieb. Inga hat ein schwarzes kurzes Kleid an. Vielleicht sind es die spitzen Knie, die darunter hervorstechen?
Inga ist immer für Überraschungen gut. Sie hat eine neue Frisur. Sieht man sie von links an, glaubt man, sie habe ganz kurz geschnittenes Haar. Von rechts aber ist es knapp schulterlang. Inga sieht Helene an und fragt, ob das nicht eine Frisur für sie wäre. Sie habe sie sich probehalber verpassen lassen. Helene könnte mehr als die Hälfte ihrer Haare behalten und sähe trotzdem gut frisiert aus. Helene schüttelt den Kopf vor Lachen.
Ja, da ist das Vergnügen.
Noch einen Eiskaffee? Inga würde lieber kühlen trockenen Weißwein trinken und fragt die Kellnerin danach, die gequält zurücklächelt. Doch nicht im Krankenhaus! Na, dann nimmt sie eben noch einen Eiskaffee. Aber ohne Sahne. Und Helene? Helene lacht unausgesetzt. Inga scheint damit zurechtzukommen, fragt jedenfalls nicht nach der Ursache. Einen — grünen — Tee — bitte. Stockend und stolpernd kriechen die Worte unter dem Lachen hervor, das sie deckelt und nicht so richtig herauslassen will. Aber Inga zieht sie zielsicher hervor und übersetzt der Kellnerin.
Als sie wiederkommt und das Gewünschte bringt, hat sich Helene gefasst.