Выбрать главу

Am Abend des Sonntags kommt betörende Ruhe auf, ein Schwarm stiller Mücken. Renja Mittelner ist übers Wochenende zu Hause, kommt erst morgen zurück. Die Bandner schläft, die Ausgetrocknete wurde von ihrer Familie abgeholt. Nein, nicht Mücken. Die Ruhe ist wie Gelee, schmatzend, über Helene hingekrochen. Sie hätte jetzt Mühe, den Arm zu heben oder das Bein. Seltsam, dass Stille sich derart materialisieren kann. Nicht einmal die Lider möchte Helene heben, so schwer wiegt das Zeug. Sie weiß, dass sie es mit einem entschiedenen Ruck ihres ganzen Körpers zerreißen könnte, aber sie will nicht. Liegt still unter dem Gelee und versucht zu denken. Sie hat schon gemerkt, dass das Erinnern gut geht, wenn sie ein Seil auswirft. Es verhakelt sich dort, wo es dunkel ist, und sie kann sich daran vorwärtsziehen. Heute hat sie sich Matthes’ Untreue vorgenommen.

Untreue?

Ausnahmezustand.

Das Wort kommt schneller, als ihr lieb ist, denn was es mit sich bringt, rumort sofort in den Eingeweiden: Sie konnte kaum essen damals, kotzte alles sofort wieder heraus, und das bisschen, was sie drinbehielt, suchte dünnflüssig den Hinterausgang.

Vor sechzehn Jahren hatte Matthes nach einem — aus ihrer Sicht: schönen — gemeinsamen Abend die Plane vom Hängeboden geholt, mit der er bei ihr eingezogen war. Seine ganze Habe war darin verschnürt gewesen. An jenem — aus seiner Sicht: gequälten — Abend vor sechzehn Jahren hatte er ihr gesagt, dass er nun, nach dem letzten Scrabble-Spiel, von ihr fortginge. Er könnte dazu nichts sagen, alles Weitere würde schriftlich folgen. Sprach’s, packte sein Zeug in die Plane, lud sie aufs Fahrrad und war fort. Sie hatte es zunächst für eine seiner sprichwörtlichen Überraschungen genommen, die ihm nach wie vor gelangen. Zwar hatte sie, während er packte, gezittert, aber nicht gewusst, ob aus Angst oder in gespannter Erwartung. Hatte dann lange noch im Bett wach gelegen und überlegt, ob sie die Szene geträumt oder wirklich soeben erlebt hatte. Auch am Morgen, als sie nach dem Aufwachen auf die andere Bettseite langte, war er nicht da gewesen. Sie hatte die Kinder geweckt und war dabei langsam in einen Zustand der Bewusstlosigkeit hinübergeglitten, der die Kinder schweigen machte und den Abläufen des durchschnittlichen Morgens einen somnambulen Selbstlauf verlieh. Sie war auch nicht zu sich gekommen, als die Kinder in der Schule und Kindergarten verschwunden waren und sie die Jüngste mit ihrer Mittelohrentzündung der Kinderärztin vorgestellt hatte. Jeden Augenblick hatte sie Matthes zurückerwartet und jedem Augenblick eine solche Last damit aufgebürdet, dass er im bewussten Zustand gar nicht zu ertragen gewesen wäre. Am nächsten Tag hatte die Post einen Brief von Matthes gebracht, in dem er sich für die

schöne gemeinsame Zeit

bedankt hatte. Wie ein Nachruf war Helene das vorgekommen, sie hatte bedauert, nicht schon längst tot zu sein. Dann hatte sie plötzlich so laut geschrien, dass Lissy aus ihrem Zimmer getaumelt kam und die Nachbarin Sturm klingelte. Lissy hatte ihr geöffnet. Von da ab hatte sie zu kotzen begonnen, wenn ihr der Geruch von Essbarem auch nur in die Nase gekommen war. Ihre Freundin Heidrun war die Auserwählte, die nun mit Matthes schlafen und seine spontanen Lehn-dich-doch-an-Angebote annehmen durfte. Helene hatte sie unter neben über auf ihm liegen und mit ihm ficken schnäbeln frotzeln turteln sehen in Gedanken, sie hatte es nicht fassen können, sie hatte den heiteren Himmel von vorgestern nach Vorboten der Düsternis wieder und wieder abgesucht, sie hatte Schmalz ausgelassen. In allem fand sich weder ein Groll gegen ihn noch gegen sie, nur: Sie war

versehrt

Der Sinn des Wortes war ihr am Ende der Brieflektüre schlagartig klar geworden, als sie den höllischen Schmerz gespürt hatte, der pulsschlagend auf sie eindrosch. Bill hatte nach der Rückkehr aus der Schule die Schwiegermutter angerufen, die mit harscher Wut auf ihren Sohn am selben Tag noch angerückt war und das Heft in die Hand genommen hatte. (

Nägel mit Köpfen. Butter bei die Fisch. Der hat sie doch nicht alle. Den werden wir uns aber zur Brust nehmen. Drücken werden wir den, bis ihm die Augen rauskommen, und dann, weil sie rauskommen.

So waren ihre Sprüche planlos aus dem Mund in die Räume der Neubauwohnung übergetreten.) Helene wagt nicht, sich auszumalen, was passiert wäre, wenn die Schwiegermutter nicht das Heft in die Hand genommen hätte. Aber jetzt, wo die Gedanken daran mit einem Rumpeln in den Eingeweiden daherkommen, ist es auch nicht mehr angebracht, sich das auszumalen. Jetzt ist es angebracht, das Rumpeln in den Eingeweiden ein bisschen gewähren zu lassen und sich dann daran zu erinnern, dass man unter der betörenden Ruhe eines sechzehn Jahre späteren Sonntages in der Klinik liegt und nicht mehr so einfach zur Toilette kommt wie damals.

Als sie aufwacht, ist es noch dunkel draußen. Tief und traumlos hat sie geschlafen, glaubt sie. Auf die andere Seite wälzen. Decke runter. Decke wieder rauf, doch ein bisschen zu kühl. Kopf hoch, Kopf wieder runter. Sie ist immer noch mit der Bandner allein? Als sie den Kopf noch einmal hebt, um sich dessen zu vergewissern, prustet sie los: Die Bandner glotzt selig lächelnd den Mond an, der ihr aufs Gesicht scheint. Nein, das ist nicht der Mond, der müsste ja auch in jenes Fenster hereinscheinen, das Helenes Bett am nächsten ist. Es ist eine Laterne, die den Weg draußen zu den kostenlosen Parkplätzen erleuchtet. Ganz genau scheint sie fokussiert auf das Gesicht der Bandner, die irgendjemand gesalbt haben muss, so glänzen die Fettbacken! Ein göttlicher Anblick. Selten hat Helene die Bandner lächeln sehen. Sie grinst, wenn sie sich beschissen, sie grinst, wenn sie den Joghurt, den sie neben der Sondenernährung löffeln darf, der Schwester ins Gesicht gespuckt hat. Süffisant. Komisches Wort, denkt Helene. Dass es ihr an dieser Stelle eingefallen ist! Mit

Suff

hat es nichts zu tun. Sie erinnert sich, das ein paar Jahre lang geglaubt zu haben: ein seliges Alkohollächeln. Bis sie im Wörterbuch nachschlug.

Still liegt sie jetzt, und ihr Denken schlägt sich zum gestrigen Abend durch. Matthes’

Affäre

Sein

Verhältnis

Ihre

Nebenbuhlerin

Seine

Kebse

Das Rumpeln in den Eingeweiden fällt ihr ein und dass sie versucht hatte, es zu beruhigen, weil sie die Kahnfahrt zur Toilette mit der Schwester hatte vermeiden wollen. Eingeschlafen war sie darüber. Je stiller sie liegt, desto lauter werden die Bilder. Heidruns Töchter an Matthes’ Hand. Das Herz hatte ihr zum Halse heraus geschlagen, als sie ihn mit ihnen sah in der Kaufhalle, sie war hinter ein Regal gesprungen und hatte die Schwiegermutter, die sie begleitete, wohl angesehen wie ein verstörtes Mädchen. Die hatte Matthes dann auch erspäht, war schnurstracks zu ihm hingelaufen und hatte ihm eine

geklebt, geschwalbt, gedrückt, verpasst

(Helene weiß gar nicht, was sie deutlicher fühlt, die damalige Aufregung oder die Freude darüber, dass Wörter sie anfliegen …), dass er mit einseitig gerötetem Gesicht und den beiden Mädchen an der Hand wortlos davongeschritten war. Ja, geschritten ist wohl das richtige Wort: Betont langsam,

Storch im Salat

, war er hinausgegangen, hatte seinen gefüllten Korb einfach stehen gelassen. Sie hatte ihm nicht nachsehen können. Das Haus, in dem Heidrun wohnte, lag nur eine Straßenecke entfernt, sie hatte beständig Angst gehabt, Matthes zu begegnen. Ihr Urlaub stand bevor. Gemeinsam hatten sie Harz gebucht mit den Kindern. Die Schwiegermutter wollte nun mitkommen an seiner statt. Das war nett, aber eigentlich unerträglich.

Eines Abends klingelte es, und Matthes stand vor der Tür, bat Helene zum Spaziergang, die Schwiegermutter billigte das. Das große Zittern war sie angekommen, aber sie hatte die Jacke übergezogen und war tapfer hinuntergegangen, wo Matthes ihr erklärte, dass er es als seine Pflicht ansähe, mit ihr in Urlaub zu fahren.