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Wer so einen Herzschrittmacher hat, dessen Herz schlägt und schlägt, selbst wenn der Körper schon hinüber ist. So freundlich lächeln sie dich alle an hier, dabei ist es ein Mörderverein, umbringen wollen sie dich wie all die anderen, sie muss das unbedingt ihrem Mann sagen. Er wird doch hoffentlich noch vor der Nacht kommen. Wo ist sie eigentlich? Ganz schön lange hält sie die Augen nun schon geöffnet, aber wo sie ist, will ihr einfach nicht aufgehen.

Das sind doch schon wieder ihre Eltern! Sie möchte sich aufsetzen, fragen, wer geheiratet hat. Warum hast du eine kalte rechte Hand, Mama

?

Es geht nicht. Aufsetzen nicht und fragen nicht.

Zusammennehmen.

Mund zupressen. Augen öffnen.

Wirklich, es sind ihre Eltern! Ihr Vater sieht aus wie damals, als ihre Schwester mit dem Roller den Geißenberg hinuntergefahren war. Wie lange ist das jetzt her? Sie rechnet. Haben wir

2002

? Die Schwester ist

1961

geboren und war etwa sechs Jahre alt bei der Rollertour. Also

1967

Das ergibt fünfunddreißig Jahre. So lange! Warum hat sie sich gemerkt, wie der Vater aussah? Vati, sei nicht traurig! hat sie damals geflüstert, und er hat sie gedrückt und vor Freude geweint, als der Arzt ihnen die Schwester wieder mitgegeben hatte nach Hause. Nein, sie wollten sie nicht im Krankenhaus behalten.

Im Krankenhaus? Das Haus, in dem sie sich aufhält, könnte doch auch …

Die Mutter unterbricht sie. Fragt die Frau neben ihr, wann sie wieder etwas essen kann. Typisch, essen interessiert sie immer. Sie hat doch keinen Hunger!

Das dauert noch

, sagt die Frau.

Vorläufig wird sie über die Sonde versorgt, sehen Sie?

Über die Sonde, siehst du. Zufrieden schließt sie die Augen.

Ein junger Mann links, einer rechts. Sie schauen sie an, kommen ihr bekannt vor, sie will ihnen jedoch nicht in die Augen schauen.

Na ja, eigentlich möchte sie aber doch wissen, wer sie sind. Sie lächeln, reden leise miteinander, über ihren Kopf hinweg. Sie überlegt. Möchte den, der links von ihr steht, bitten, ihr das — ein Stück tiefer zu ziehen, damit es mehr im Kreuz liegt, aber sie findet das verdammte Wort nicht, wie heißt das denn nur? Sie macht den Jungen Zeichen, allen beiden, was sie möchte, nämlich dass sie ihr das — ein Stück tiefer ziehen. Sie scheinen sie nicht zu verstehen.

Womit hat sie ihnen eigentlich Zeichen gegeben? Mit den Händen? Die linke Hand liegt fest, ein Schlauch steckt darin. Ist sie etwa immer noch am Netz, wird sie etwa immer noch ferngesteuert? Sie möchte die Angst mit der rechten Hand mitteilen, aber die liegt einfach da und lässt sich nicht bewegen. Seltsam. Warum kann sie die Hand nicht bewegen? Bestimmt haben die über das Netz alle ihre Bewegungen unter Kontrolle.

Und die Jungen? Gehören die zu den Netzbetreibern? Sie sieht sie sich nun doch genauer an. Erleichterung: Die kennt sie. Es sind ihre Söhne. Deren Namen wollen ihr zwar nicht einfallen, aber das macht jetzt nichts. Sie glaubt, sie lacht. Ihre Söhne! Warum hat sie die beiden denn nicht früher angeschaut? Dann hätte sie doch schon viel länger ihre Freude gehabt! Einer von ihnen studiert. Wo studiert er eigentlich? In Weimar. Oboe. Ja, Oboe. Der Oboensohn hält ihr eine CD vor die Nase, selbst gebrannt, irgendetwas steht darauf, sie kann es aber nicht erkennen. Er schiebt die CD in ein kleines Gerät und ihr die Kopfhörer ins Ohr. Ahhh, das tut gut, das ist aber schöne Musik. Oboe. Bestimmt sieht sie selig aus, muss sie denken.

Jetzt denkt sie also darüber nach, wie sie aussieht. Wie sieht sie aus? Sie weiß es nicht mehr, sie hat kein Bild von sich. Die haben ihr das Bild von sich geklaut! Das ist die Vorhölle, die vor der richtigen Hölle kommt, und die richtige Hölle kommt nachts, wenn es dunkel ist. Irgendwie müssen ihre Söhne das aber wissen, die dürfen sie nicht hierlassen, nicht einfach wieder weggehen! Hört ihr? Hallo, wo seid ihr? Sie schaut auf, erschöpft: Die Jungen sind weg. Ahnen nichts von der Gefahr.

Eine blonde Frau tritt hinzu und hantiert an etwas herum, das neben ihr steht. Sie versucht, den Kopf wenigstens ein bisschen zu drehen. Die Blonde schaut sie böse an, aber sie schafft es und sieht eine Vielzahl von übereinandergestellten Monitoren. Die Blonde hält einen Beutel schlammfarbenen Breis in der Hand. Sie hängt den Brei an einen Haken und befestigt einen Schlauch daran.

Mittagessen

, sagt sie und lacht.

Nein, sie mag die Blonde nicht. Die Blonde mag sie nicht. Sie mag die junge Frau, die so unentwegt redet. Dunkle Haare hat die. Wenn sie kommt, geht die Angst. Mit der Blonden kommt sie wieder. Kommen und Gehen. Zwischen der Blonden und der Dunklen gibt es noch einen Mann. Eben hat der ihr die Scheiße abgewischt. Das war peinlich. Sie weiß einfach nicht, was da unten los ist. Was ist da unten nur los? Ah, da kommt der Mann ja wieder. Nimmt die Decke beiseite und ihre Beine auseinander. Halt, das dürfen Sie nicht! Halt! Aber er lächelt, wie sie hier immer alle lächeln, diese Verbrecher. Wäscht er sie? Er wäscht sie. Das ist eigentlich angenehm, sie könnte ihren Widerstand aufgeben. Er bemerkt ihren Widerstand sowieso nicht, oder? Lässt sie sich also waschen. Warum die sie das nicht selbst machen lassen, will sie lieber nicht so genau wissen. Bestimmt wollen sie saubere Leichen nach der nächsten Nacht. Nicht solche beschissenen Blutpuppen. Sie blutet nämlich. Die Windeln waren voller Blut. Es tut aber nichts weh. Wird nicht so schlimm sein, dass sie blutet. Welches Datum haben wir eigentlich? Keine Ahnung. Irgendwie ist ihre Tochter doch neulich zur Sprachreise gefahren. Das war der zehnte Juli. Aber sie war am gleichen Tag ja schon wieder da! Wenn sie es sich genau überlegt, versteht sie es nicht. Haben wir den fünfzehnten oder sechzehnten Juli? Ja, wahrscheinlich. So ungefähr.

Ob es die Regel ist? Sie kommt zu keinem Ergebnis. Wann war die letzte Regel? Sie erinnert sich daran, wie ihr Vater vor fünfunddreißig Jahren ausgesehen hat, weiß aber nicht, wann sie die letzte Regel hatte.

Jetzt zieht der Mann ihr eine neue Windelhose an.

Sie will schlafen.

Nachts wieder ein großes Gewusel, drunter und drüber, Betten quietschten, Karren karrten, bestimmt sind sie mit dem Abtransport der Leichen gar nicht mehr klargekommen. Jetzt weiß sie nämlich, was die mit den Leuten machen: Sie entziehen ihnen mit unvorstellbarer Hitze, während sie Strom durch die Körper jagen, alle Feuchtigkeit, und zurück bleibt ein trockenes, gerunzeltes Quaderchen. Solche Quaderchen hat sie schon mal gesehen, irgendwo stand eine Mauer, die daraus gebaut worden war. Vielleicht bauen sie sogar Häuser aus den Quaderchen! Hat sie sich dreingeschickt? War gespannt, als sie selbst im Austrockner lag. Der Mann, der ihn bediente, sagte, sie sei irgendwie zu fett, das ginge nicht, er stellte ihn ab und brachte sie zurück.

Zwar hat sie große Angst, aber das macht sie nicht traurig. Darüber wundert sie sich. Es ist halt der Lauf der Dinge, dass man kurz vor dem Ende beinahe alles erfährt … Etwas bäumt sich noch auf, aber das wird kleiner und kleiner. So hatte sie letzte Nacht Hoffnung, von hier abzuhauen. Der junge Hinternabwischer hatte sich neben sie gesetzt. Irgendwie hatte er verstanden, dass sie nicht sterben will. Er gab ihr zu verstehen, dass er sie nachts verstecken würde, in einer Abstellkammer, und am Morgen, wenn sein Dienst zu Ende sei, würde er sie mit hinausnehmen. Sie war glücklich.