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Ihr Herz hatte für den Moment gestockt, sich aber dann des Weiterschlagens besonnen. Sie hatte nichts erwidert. Nichts erwidern können. Es hatte ihr
die Sprache verschlagen.
Matthes hatte sie verlegen grinsend angesehen und gefragt, wann es genau losginge. Zwei Tage später hatten sie sich am Bahnhof getroffen. Was Heidrun dazu sagte? Wieder verlegenes Grinsen. Die Fahrt über hatten sie sich manchmal wie scheu verliebte Teenies angesehen. Wenn sie ihn zufällig berührte, waren die Stellen heiß geworden, als ob die Haut sich auflöste. Sie hatte sich gefragt, ob die prickelnde Hitze nur sie angefallen hatte. Mit den damals drei Kindern hatten sie zwei Zimmer im Betriebserholungsheim bekommen. Helene hatte erst einmal Ruhe gewollt. Kein Gespräch angefangen. Die Kinder waren wie immer gewesen, lieb und zutraulich, Lissy papaversessen, die Jungen distanziert. Schon in der ersten Nacht hatte sie nach ihm gelangt und ihn bekommen. Und Heidrun? hatte sie fragen wollen, aber Heidrun war nicht hier, nicht dabei, zum Glück, ihrem Glück, nicht Heidruns. Am Morgen dann wieder Abstand, nicht übergroß, aber deutlich, so, als hätte er sich seiner anderweitigen
Pflicht
, der gegenüber Heidrun, besonnen. Als wäre das Erfüllen von
Pflichten
das, was ihn antrieb und seinen Willen unterwarf und gar nicht zum Zuge kommen ließ. Als wollte er unangreifbar sein, ein zwischen die
Pflichten
Geworfener, einer, dem man nicht nachsagen konnte, er habe die
Pflicht
verletzt, die Familien
pflicht
nicht und die Kebsen
pflicht
nicht, aber sie hatte gewusst, dass es etwas war, was er sich vormachte, mit Eifer, Ernst und Zerissenheit, und als sie zum ersten Mal Anzeichen dieser Zerrissenheit wahrgenommen hatte, war sie versucht gewesen, sie weiterzutreiben, ihm Heidrun auszutreiben und ihn weg von sich, sollte er doch sehen, wo er bliebe mit seiner
Pflicht
versessenheit, seinem fordernden Hunger nach ihr, der vielleicht nur der Hunger nach Heidrun war, womöglich sah er Heidrun vor seinen geschlossenen Augen, wenn er mit ihr schlief, womöglich hielt er, mit ausreichendem
Pflicht
bewusstsein, ihren für Heidruns Körper, sie war immerhin magerer geworden in den letzten Wochen, sie hatte ihm in einer Aufwallung großer Wut einen
Pflicht
verteidiger gewünscht, falls sie stürbe, erstickte an seinem
Pflicht
beitrag, denn er wäre schuld an ihrem Tode, so viel stand fest … Sie hatte einen Spanischkurs der Volkshochschule besucht damals und deshalb ein Wörterbuch mit in den deutschen Harz genommen, hatte es immer mit sich geführt, in Handtasche oder Rucksack, und es war seines gewesen, das sie ihm geschenkt hatte. Helene sieht es vor sich und sieht, wie sie ihn damit schlägt, wie sie dann die Absatzschuhe zur Hand nimmt und auf ihn eindrischt wie der Schmerz auf sie all die Wochen, während er nichts tut, nur dasitzt und alles erträgt und die Augen geschlossen hält und wahrscheinlich daran glaubt, dass es seine
Pflicht
ist, das auszuhalten. Als sie von ihm ablässt, hat einer der Schuhe seinen Absatz verloren.
Das Licht ist aus, die Bandner glotzt nicht mehr.
Dafür dämmert es.
Jenseits der Dämmerung liegt ein heißer, sonniger Tag, in den es sie zieht wie in ein warmes Ölbad. Vorerst aber folgt die Dusche, mit Carola. Carola fährt sie danach ins Frühstückszimmer, es hat ihr jedoch den Appetit verhagelt. Die Erinnerungen an Matthes’ Affäre haben sie Kraft gekostet, von der sie nicht wusste, dass sie darüber verfügt. Jetzt ist sie diese Kraft los, und kraftlos lässt sie das Essen an sich vorbeigehen,
wie damals
.
Der Fernseher läuft. Noch immer Überflutungen in Deutschland. Vor sechzehn Jahren, muss sie auf einmal denken, gab es zwar sie und Matthes und drei ihrer fünf und zwei weitere Mattheskinder und Heidrun und deren beide Töchter und Matthes’ Geschiedene und die Väter ihrer eigenen Söhne, aber es gab dieses Gebilde nicht, das sich nun Deutschland nennt. Wo Ost und West sich sehr unmittelbar miteinander vermengen und auf diese Weise einen westöstlichen Mischpuffer bilden sollen zwischen dem richtigen Osten und dem tatsächlichen Westen. Eigenartig. Es hat keine Rolle gespielt, seit Helene wieder zu sich gekommen war, nicht einmal letzte Nacht, als Gefühle von damals, aus einem anderen Land, hochkochten, als seien sie gerade eben in diesem entstanden. Überhaupt — hatte die Erfahrung des Verschwindens, ohne von der Karte getilgt zu werden, nicht vor dem Platzen des Aneurysmas, vor der Dunkelpause, über allem gehockt wie ein Bussard, bereit, jederzeit nach Beute zu schnappen? Das unterschwellige, blitzschnelle Abwägen (Frisurmantelschuhe …), ob jemand von
hier
oder von
drüben
kam. Die instinktive Wendung: Wenn der andere tatsächlich von drüben kam, war dieses Drüben sein Hier. (Sie dachte, ob er dachte, dass sie dachte, dass er …) Nur dieDunkelpause konnte das ausgelöscht haben, oder? Jetzt, da sie sich darauf besann, sah sie sich im letzten Sommer beim Einkauf, es gab neue Schokolade in alter Verpackung, begierig hatte sie zugeschlagen und in der Hoffnung auf die Wiederkehr des Genusses aus Kindertagen die Tafeln zu Hause auf dem Küchentisch ausgebreitet. Als Helene fünf Jahre alt gewesen war, hatte sie, das einzige Mal, ihrer Mutter drei Mark und achtzig Pfennig aus der Geldbörse geklaut und sich eine Tafel Rotstern-Vollmilch gekauft, hatte noch unterwegs das Papier abgerissen und sich Stück für Stück in den Mund geschoben — es war das nachdrücklichste Geschmackserlebnis gewesen, dessen sie sich erinnern konnte. Und nun hatte sie den Kindern jeweils eine Tafel mitgebracht und ihnen in gespannter Erwartung aufgedrängt. Mareile hatte ein Stück probiert, die Tafel aber dann nicht etwa mit auf ihr Zimmer genommen, sondern sie im familiären Süßigkeitenfach verschwinden lassen, hoffend, sie möge jemand anderem schmecken. Lissy hatte mit Verweis auf Magen-Darm-Infekt auf schwarzer Schokolade bestanden, und Lottchen hatte gemeint, Vollmilch nicht zu mögen, sondern nur Kinderschokolade. Als sie später allein gewesen war, hatte sie Mareiles Tafel aus dem Fach genommen und mit geschlossenen Augen ein kleines Stück davon auf die Zungenspitze gelegt, gegen den Gaumen gedrückt und mit langsam kreisenden Zungenbewegungen zum Schmelzen gebracht. Nein, diese Schokolade hatte nicht die erwartete, leicht sandige Konsistenz gehabt … Helene wischt sich den Lachfaden ab, der herunterhängt in die Kaffeetasse. Carola fragt noch einmal, ob sie wirklich nicht wenigstens einen Joghurt essen wolle. Joghurt? Da ist es, das Ende der
Affäre
: Matthes hatte nach sieben Heidrunwochen, fünf vor, zwei nach ihrem gemeinsamen Urlaub, eines Morgens vor ihrer Tür gestanden, mit Joghurt im Beutel, kleine Viertelliterflaschen, mit dunkelroter Fruchtessenz unter dem Aluminiumdeckel. Sie liebte diesen Joghurt.
Er hatte ihn schließlich aus ihrer Bauchmulde gelöffelt.
Matthes kommt zwei Stunden später, auch er ist krankgeschrieben. Warum? Keine Antwort. Sie ist verärgert. Schiebt die Decke hinunter und das Nachthemd hinauf. Langsam öffnet sie den Joghurtbecher, den sie vom Frühstück mitgenommen hat, und lässt das Zeug auf den Bauch platschen. Keine Mulde mehr da wie vor sechzehn Jahren, es läuft links und rechts an den Seiten hinab aufs Laken. Ein Häufchen bedeckt den Nabel. Ihr Blick? Fordert nichts, hat sich verschlossen.