Geschlossene Veranstaltung
kann man demgegenüber aber nicht sagen, denn Renja Mittelner schaut verständnislos, was Helene nicht sieht, und einer der Zivis, die hier Dienst tun, kommt eben herein. Helene hält den Löffel stur nach oben, zwanzig Zentimeter vor Matthes’ Kopf, sie wartet. Soll er ihr doch aus dem Bauch fressen! Ist doch was anderes als aus der Hand, oder? Ihren Ärger kann sie gar nicht so richtig benennen, es ist, als hätte sich alle Wut der Welt ausgerechnet in ihr erkältet und dränge plötzlich in einem gewaltigen Hustenanfall nach draußen, der Joghurt springt im Rhythmus der Kontraktionen und verteilt sich weiter, und Matthes wirft ihr jetzt die Decke über den Leib und sich darüber hin, beruhigen soll sie sich. Beruhigen. Dass er auf ihr liegt, macht sie aber zunächst noch wütender, sie schreit sich’s mit Lust heraus aus den Eingeweiden, das Versehrtsein, dass es ihr nicht mehr so schwer auf Magen und Niere liege, soll’s doch ruhig draußen bleiben, denn tief innen ist sie doch dieselbe Helene wie vordem! Der Zivi kommt Matthes zu Hilfe, gemeinsam halten sie sie fest. Erstaunen, wie viel Kraft in diesem Körper steckt, der nicht stehen noch gehen kann. Gerade gibt sie sich eine Eins im Fach Aufbegehren, da fällt der schöne Mut auch schon in sich zusammen und lässt ein Häufchen zurück. Kein Elend, nur Späne der Revolte, die durchaus noch zu Asche werden könnten, wenn sie nicht aufpasst. Sie will sich nicht unter Spannung setzen, den Rest verbrennen lassen. Ruhiger atmen. Nun doch. Nun doch.
Am Nachmittag kommt Matthes zum zweiten Mal an diesem Tag. Helene liegt, den Kopf zum Fenster gedreht, im Bett. Als er sich auf den Stuhl gesetzt hat, schweigend, fragt sie ihn plötzlich, ob sie früher eine
politische
Beziehung miteinander gehabt hätten. Natürlich hätten sie eine
positive
Beziehung miteinander, wie hätte die denn sonst so lange halten können … Immer noch der zum Fenster gedrehte Kopf, er sieht ihren Mund nicht.
Aber nein, eine
politische
!
Sie ärgert sich, dass er falsch versteht, die Schuld unentschieden sich und ihm zuschreibend, in schnellem Wechsel.
Er sagt nichts.
Er hält das für eine dumme Frage? Sie wird rot. Dumme Frage, in der Tat. Politische Beziehungen sind solche zwischen Staaten, bilateral oder multilateral, sicher, ihr fällt aber nicht ein, wie sie das, was sie meint, umschreiben könnte.
Ich liebte dich, seit ich dich zum ersten Mal sah.
Seine Augen gehen dabei auch aus dem Fenster, vielleicht treffen sich ihre Blicke ja irgendwo da draußen.
Das weiß sie doch. Das hat er doch schon oft gesagt. Bestimmt wiederholt er es, weil er denkt, sie habe das vergessen, es sei gelöscht worden von der Blutüberschwemmung in ihrem verdammten Schädel. Das muss nicht erneut einprogrammiert werden, nein, das ist drin und das bleibt so. Aber hat er es in der Vergangenheit gesagt? Nun dreht sie den Kopf zu ihm.
Was?
Ich liebte dich, seit ich dich zum ersten Mal sah.
Noch immer geht sein Blick draußen spazieren, hat ihren wohl nicht getroffen.
Ja, tatsächlich Vergangenheit. Und Gegenwart? Gilt das noch? Liebt er sie noch immer? Wie soll sie das rauskriegen … Sie wird fahrig. Ihre linke Hand wandert die Außenlinie des Kehlkopfes entlang, erforscht die Bratwurst unterm Kinn. (Noch da.) Geht hinauf zum Stoppelhaar, nimmt die Pickelstümpfe unter die Finger. (Unverändert.) Ja, sie ist hässlich, wo soll da Liebe sein, eigentlich ist es ganz einfach, sie weiß nicht, was sie denken soll.
Gibt es andere Wörter für Liebe?
Ihr fällt keines ein.
Was fällt ihm ein, von Heidemühlen anzufangen. Das ist ihr zu viel, sie ist doch auf ganz anderer Schiene unterwegs, hat einen Kloß im Hals und einen Klotz am Bein und das Klo nicht unterm Arsch! Jetzt lacht sie auf einmal, weil die Wörter in ihrem Kopf ganz von selbst und noch dazu ganz richtig gekommen sind: Sie liegt im Kampf mit den Tränen (Halskloß), mit der lahmen Seite ist es ein Kreuz (Beinklotz), und jetzt drückt es ganz schön, sie kann es nicht sagen, heftig dirigiert sie den Rollstuhl herbei und Matthes dazu, sie hineinzusetzen, und schon fährt sie los. Matthes ist unschlüssig, folgt ihr aber auf den Flur. Sie winkt ihn heran, er muss sie doch hinter der Tür aufs Klo setzen, das kann sie doch nicht alleine, und bis eine Schwester käme, wäre es mit ziemlicher Sicherheit zu spät! Sie feuert ihn an mit zischelnden Buchstabenfolgen, die sie vor lauter Aufregung wirklich nicht ordnen kann. Mit Blicken von Grandezza bis Scham. Mit scheuem Ärmelzupfen, schließlich einem schwachen Tritt mit der linken Fußspitze, und er hat endlich verstanden. Zieht ihr den Schlüpfer herunter und setzt sie auf die Brille, dreht sich um, geht zum Fenster. Die Geräusche sind eine Qual für sie, es spritzt ins Klobecken, sie kann es nicht anhalten und ihn hinausbitten, so armselig ist sie sich noch nie vorgekommen ihm gegenüber, aber es geht vorbei, und er kommt zurück, den Schlüpfer wieder hochzuziehen. Noch nie haben sie zusammen geschissen, muss sie denken.
Aber ob es dabei bleibt, weiß sie nach allem, was hier so passiert, nicht mehr.
Er fährt sie zurück, doch bei der Nische mit Vorhang stemmt sie das linke Bein auf den Boden und beharrt darauf, nicht weiterzufahren. Er kann sich ja einen Stuhl holen, ein Stückchen weiter stehen zwei, mit Blumentopf dazwischen. Als er sitzt, kommt es noch einmaclass="underline"
Waren wir nun
politisch
?
Er lächelt nicht ein bisschen, weiche bis butterweiche Abgeklärtheit liegt auf seinem Gesicht. Die Haare streift er mit der rechten Hand, ehe sie in seinem Nacken zu liegen kommt, besser: ihn packt, die eigene Hand! das sieht komisch aus. Das Butterweiche verschliert jetzt, und aus dem Brei ersteht ein Fratzgesicht: W-e-i-ß-t d-u n-o-c-h, i-n d-e-n A-c-h-t-z-i-g-e-r j-a-h-r-e-n …?
Hingezittert hat er das, mit verstellter Altmännerstimme und tapperndem Oberkörper, sie erinnert sich plötzlich, dass dieser Fragesatz aus seinem Mund oft gefallen war, wenn er ihr etwas ins Gedächtnis hatte zurückrufen wollen. Sie antwortet mit gleicher Mimik und Gestik, aber ohne Worte. Er versteht schon.
Mitte der Achtziger …
Mitte der Achtziger zogen sie von Henrichshorst nach Berlin, in die erste Wohnung, für die drei Kinder nicht gereicht hatten. (Heiraten? Heiraten!) Danach war sie erst einmal arbeitslos gewesen, obwohl es so etwas im offiziellen Sprachgebrauch des Landes gar nicht gab. Sie hatte Raphael kennengelernt und Sibylle, die im Kahn gesessen hatte wegen ihrer Vorliebe für oppositionelle Zirkelschlüsse. Eine Weile hatte sie sich als deren stummer Spiegel gefühlt: Sie machten den Mund auf — Helene staunte darüber, offenen Mundes. Wenn sie jetzt daran denkt, so rückt es ihr auf die Pelle wie dem Tierschützer ein zugeworfener Pelz, den er ängstlich bis ärgerlich loswerden will. Sie wehrt sich? Sie wehrt sich. Irgendetwas ist unangenehm. Hatte sie nicht Jahr um Jahr viel zu still in der Barke gehockt und war durch einunddreißig der vierzig dem Osten beschiedenen Jahre geschippert? Widerspenstigkeiten, die damals ganz hübsch wirkten, waren im Nachhinein zu lachhaften kleinen Anekdötchen geworden. Ein Beispiel? Mitte der Achtziger kam der Älteste zur Schule. Helene hatte zum ersten Elternabend der Klasse einen Vortrag vorbereitet. Die Lehrerin, frisch von der Fachschule, hatte es sich gewünscht.
Wie verhelfe ich meinem Kind zu einem konzentrierten, fröhlichen Schulanfang?
Dies und das, auch Fernsehen. An der hinteren Klassenzimmerwand hing eine Abbildung von Samson aus der Sesamstraße. Fernsehen war ihr suspekt, aber wenn es denn sein musste, so waren die Sendung mit der Maus und die Sesamstraße gut und sehenswert. Sie hatte es einfach so dahingesagt, weil Samson ihr zulächelte. Welche Welle zuerst kam? Die erheiterte der Klassenelternmannschaft. Als Helene aber am nächsten Morgen Bengt in die Schule brachte, war da kein Bild mehr von Samson an der hinteren Wand, dafür lag eine Einladung zum Gespräch mit der Parteileitung der Schule auf dem Tisch der Junglehrerin. Die Parteisekretärin hatte eine Tochter in Bengts Klasse und sich berufen gefühlt, die zweite Welle loszutreten, die nun nicht mehr erheitert, dafür aber lächerlich war, sodass die Wirkung auf Helene die gleiche geblieben war: Belustigung. Aber mit bissiger Unterspur. Das Samsonbild hatte die Sekretöse noch am gleichen Abend von der Wand gerissen, wie die Lehrerin ihr hinter vorgehaltener Hand zwischen Tür und Angel zugezischt hatte. Ein folgenloses Ereignis, diese Borniertheit war nicht Sache der Lehrerin, die aber zu unsicher war, sich nicht zu entschuldigen. Sie habe gar nicht gewusst, um wen es sich auf dem Bild handelte.