Ja, woher wissen Sie das denn eigentlich, Frau Parteisekretärin?
Stille, vernagelte Miene, dann Scham- oder Zornesröte, was nicht ganz klar wurde, denn keine Antwort war auch eine Antwort. Die
Genossin
hatte die Sache von da an unter den Tisch gekehrt und sich selbst beweihräuchert mit dem Akt der Gnade, den sie habe walten lassen. Die Lehrerin fühlte Helene gegenüber fortan gewissermaßen ein Stück bitternder Verpflichtung, aber die hatte es einfach beiseitegefegt, und auf ihren Sohn war kein Schatten gefallen. (Bengt fragte zwei Jahre später im Marxengelsunterricht, vermutlich Heimatkunde, sehr ernsthaft, warum die Arbeiterklasse denn einen Fabrikanten, der Engels ja ohne Frage gewesen war, und damit einen Kapitalisten verehre. Das hieße doch, dass auch Kapitalisten gute Menschen sein können.)
Noch ein Beispiel? Mitte der Achtziger hatten sie plötzlich ein Telefon bekommen. Matthes’ Idee, dass die
Sicherheit
sich eingeklinkt haben könnte, hatte sie paranoid gefunden, bis eines Tages, sie hatte früh am Morgen den Hörer neben den Apparat gelegt, weil Lissy sich ein Pfeiffer’sches Drüsenfieber aus dem kleinen blaufleckigen Körperchen schlafen sollte, und war auf einen Kaffee zur Nachbarin hinübergegangen, ebendieser Hörer auf der Auflage lag, als sie wiederkam. Wo er hingehörte, wo sie ihn aber, beschwor sie, nicht deponiert hatte. Wieder und wieder war sie den Tagesanfang durchgegangen, sah sich aber beständig den Hörer abnehmen, nicht auflegen. Nie hatte sie klären können, ob in einem unbedachten Moment nicht die Ordnungsliebe obsiegt hatte, aber der Sicherheitsstachel fing an zu jucken, wurde dicker, größer, bis er Matthes das Telefonieren verleidete, Helene aber zu immer größerem Spaß verhalf:
Für die Apparatschiks zum Mitschreiben
, sagte sie jedes Mal laut und deutlich, wenn es darum ging, mit Freunden Termine oder Treffpunkte abzustimmen. Es war ein schleichender, sich einschleifender Übergang zur Courage gewesen. Mitte der Achtziger war der Film der Trotta über die Luxemburg auch diesseits der Sesamstraße gelaufen. Der Halt, den sie an dieser Boje fanden, gab der eigenen Stimme wenigstens den Anflug eines härteren Tons, wenn sie sich gegen die bornierte Dummheit tagaus, tagein ein paar Ausbrüche erlaubte. Wie das damals funktionierte, kann sie nicht wiederherstellen. Ein Film als Boje, ein Buch als Brüstung … So lange das auch her war, so tief war sie doch geprägt gewesen davon, dass sich
das Leben
zwischen den Zeilen abspielte und nicht von jedermann verstanden wurde. Heute sagten ihr Bücher von damals auch nach langem und eingehendem Befragen nicht, was sie groß gemacht hatte und zur Reling, über die man hinausschauen konnte nach anderswo.
Alles ist relativ
, muss sie nun denken. Alles ist gefangen auf seinem kleinen historischen Gartenstückchen, und wenn man nicht mehr in der Lage ist, das Land zu bewirtschaften, muss man Platz machen.
Platz machen.
Augenblicklich wird ihr kalt.
Matthes holt eine Jacke, legt sie ihr um die Schultern.
Ach, Matthes.
Matthes ist wieder weg, hat Heidemühlen auf morgen vertagt. Sie ist mit ihm aus dem Haus bis zum Einlass gefahren, das Heben und Senken der Schranke dort beschert ihr ein ungutes Empfinden. Als würde die Luft beständig abgeschnitten und nur schwallweise aufs Gelände gelassen. Hastiger Abschied, sie schiebt Matthes sogar mit dem linken Arm von sich, um schnell umkehren zu können und die Schranke nicht mehr sehen zu müssen. Wie spät es ist? Siebzehn Uhr, denkt sie nach einem Blick zur Sonne. Ohne dass sie etwas davon verstünde, hat sich ihr mit den Jahren eingeprägt, wie Matthes die Uhrzeit einschätzt. Er hat immer ungefähr recht, die Toleranz würde sie mit einer halben Stunde veranschlagen. Auch Himmelsrichtungen sind kein Problem: Er richtet den Zeiger seiner Analoguhr auf die Sonne aus. Auf halber Strecke zwischen dem Zeiger und der
12
— Uhr-Marke liegt Süden. Dass ein Kirchturm nach Westen, der Altar hingegen nach Osten zeigt, hatte sie nicht von ihm lernen müssen, aber er hatte ihr gezeigt, dass Bäume auf freiem Feld meist nach Osten geneigt stehen, da der Wind öfter von Westen her bläst als aus anderen Richtungen. Dass die Jahresringe frei stehender Baumstümpfe auf der Südseite breiter sind. Dass Moos an Bäumen, die Wind und Wetter ausgesetzt sind, auf der Nord-West-Seite wächst. Jungenleben, das er hinter sich hat. Ihre Füße in den dunkelblauen Sandaletten wollen springen wie Jungenfüße, über den Graben neben dem Haupteingang, über die Bänke, indem sich der rechte Arm auf die Lehne stützt und der Körper in einem Zug beide Beine darüber hinwegsetzt, über die Linien zwischen den Betonplatten auf dem Weg zum Parkplatz oder über den Zaun, der ein leer gezogenes Gebäude auf dem Gelände umschließt wie ein im Dreimeterabstand festsitzender Riemen. Es zuckt in den Füßen, sie möchte, sie will, sie stellt den Rollstuhl fest mit der Bremse und zieht sich hoch am Tisch der Cafeteria.
Als sie wieder zu sich kommt, wird sie auf der Trage in ihr Zimmer gefahren, Carola zieht den Rollstuhl hinter sich her.
Na, Helenchen, war’n ditte mal wieder?
Ah, Hartmut … Wie kommt der denn hier rüber auf die
stroke unit
? Und wie kommt sie überhaupt auf diese Trage? Trödelndes Erinnern, die Stückchen fügen sich nur langsam, sie hatte versucht, aufzustehen, wollte sie nicht springen?
So ein Jungenleben hat es eben in sich.
Man hat die Computertomografie ihres Schädels nach dem Sturz wiederholt. Sie erfährt es am nächsten Morgen bei der Visite, man wollte erneute Blutungen als Ursachen für ihren Bewusstseinsverlust ausschließen. Ob es ein epileptischer Anfall war, ist für die Ärzte offenbar noch nicht geklärt.
Epileptischer Anfall?
Sie will aufbrausen.
Das Jungenleben!
Mit dem Ruf zischt Atem ab, ganz luftleer ist sie danach, möchte tief einatmen, verhechelt und verschluckt sich, fühlt die Kraft nicht, die nötig wäre, das abzuhusten, Luft! Luft! ihr Körper krümmt sich ins Kissen, wo er doch lieber aufginge im warmen Atemstrom, die Angst kommt von hinten, aus dem Nacken, umschließt die Gurgel mit festem Griff und macht den Luftweg ganz zu, sie gurgelt, veratmet sich stoßweise, Sauerstoff, fällt es ihr ein, Sauerstoff heißt das Zeug, das ihr zu fehlen beginnt, Sauerstoff mit au, wie Augenblau, wie Laubbaum, auf fauler Haut, auf der Lauer, aufatmen, aufatmen … es bewegt sich was, es räuspert sich, etwas macht den Weg frei, den Luftweg, vorsichtig, stückweis, es macht, dass der Angstgriff sich lockert, wieder schließt, sich lockert, nun doch, und langsam, sehr langsam kann nun sie nun wieder (versucht es) Atem holen, von weit her, über Umwege, Schleichwege, am Zäpfchen vorbei, durch den Kehlkopf hindurch, dessen Deckel doch besser schließen sollte als eben, als sie sich so heftig verschluckte, nein, nicht sich, sondern Speichel, den sie nun mühsam hinausbringt, hat sie’s geschafft? Die Augen der Visitemannschaft starren sie an, ein Arzt im Praktikum hat ihr den Arm unter den Oberkörper geschoben und sie aufgesetzt, eine Schwester schaut erschrocken, der Chefarzt bedächtig.