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Na, sie hat es geschafft.

Das wird Ihnen jetzt öfter passieren

, sagt der Chefarzt. Lähmungsfolge.

Aber epileptischer Anfall?

Sie fragt es laut in die Runde und setzt zur Erklärung an, dass sie mit den blauen Sandaletten habe springen wollen, die Füße haben gezuckt, als ginge das, sie wollte es ausprobieren und einfach aufstehen und losgehen, losspringen, sie habe den linken Fuß vor den rechten gesetzt, das sei das Letzte, was sie wisse. In diesem Moment spürt sie den Kopfschmerz, sie hat eine riesige Beule am Hinterkopf, ein Hörnchen, wie ihr Vater sagen würde.

Heiliger Bimbam, jetzt verstehe ich Sie.

Zum Glück gibt es Zeugen, die gesehen haben, wie es passiert ist. Die Kellnerin der Cafeteria. Zwei Frauen, die am Nebentisch saßen. Man kommt zu der Ansicht, dass es eher kein Anfall war.

Glaubt man ihr etwa?

Ehe sie die Frage beantworten könnte, schreibt man den Erregungsherd zur Fahndung aus: EEG, vorsichtshalber.

Wieder und wieder setzt sie das Vergangene rückwärts neu zusammen, mit den kleinen und größeren Stücken, die sie hervorkramt. So ungefähr. Aber stimmt das? Nie hat sie so viel Zeit damit zugebracht, erinnern zu üben. Es klappt nicht schlecht, findet sie, nur die letzten Wochen, Monate vor dem Ereignis, das ihr schließlich das Innerste nach außen beförderte, sind nur bruchstückhaft zugänglich. Ihr vermeintlicher Entschluss, zu Hause auszuziehen, steht ganz allein da und zieht nichts nach sich. Nicht, ob sie Lottchen mitnehmen wollte. Hatten sie vielleicht sogar den Verkauf des Hauses geplant? Oder war der Entschluss hinfällig geworden? War das Aneurysma donnernd dazwischengeschlagen, oder hatten sie sich schon zuvor auf irgendetwas geeinigt? Irgendetwas, das ihr, von heute aus betrachtet, den Rest Leben verhagelte oder aufhellte, den sie sich

eben nicht

streitig machen lassen wollte? Wie waren sie verblieben, was war der letzte Stand gewesen? Warum sprach Matthes darüber nicht? Unsicherheit lässt den Blick entrücken. Keine Ahnung, ob sie Konzentration und Kraft wird aufbringen können, ihn danach zu fragen.

Wenn sie jetzt eine

Behinderte

ist?

Ja, sie kann vorläufig gar nicht alleine leben. Im selben Moment ist ihr, als sähe sie die kleine Wohnung vor sich, die sie gerade erst angemietet hat, zwei Zimmer, Balkon, Küche, Bad, sieht sich darin am Schreibtisch sitzen, kochen, Matthes empfangen, der Lottchen abliefert. Dann aber die Erlösung: nein, das war jenes Quartier, das sie während des Stipendiums bewohnte, wo war das doch gleich? Und wann?

Nichts.

Erst einmal nichts …

Aber jetzt wird es deutlicher, sie hatte den Schreibaufenthalt zur Hälfte mit, zur Hälfte ohne Lottchen verbracht, hatte die Lottchenzeit als Zweierurlaub genossen und sich nicht um das Manuskript geschert, das im Laptop steckte und sich zunehmend entfernt hatte von ihr, bis sie es zu Hause wieder heraus und alles weiterlaufen ließ. Sie befragte sich eindringlich: Das Lottchen der Erinnerung unterschied sich eigentlich nicht von jenem, das sie in den letzten Tagen gesehen hatte, es konnte also nicht lange her sein, Winter, die Bäume kahl, das platte Land unter grauem Öl erstarrt, sie hatten sich manchmal in einem Restpostenmarkt herumgetrieben, wo sie, ja, Weihnachtsgeschenke gekauft hatten, Lottchen mit dem kleinen Fahrrad, sie mit dem großen, sie waren dafür aus dem Ort hinaus ins Gewerbegebiet gefahren, hatten die Fahrräder angeschlossen und sich die Zeit vertrieben im Markt, behängt, bepackt waren sie den Weg wieder zurück ins alte Gutshaus geradelt, hatten schließlich zwei große Pakete gepackt und abholen lassen von der Post, ehe sie sich selbst in den Zug gesetzt hatten und nach Hause gefahren waren, den Rucksack voller getrockneter Früchte, mit denen sie den Daheimgebliebenen das Weihnachtsfest auf unorthodoxe Art hatten versüßen wollen, ein Fest ohne Schokolade sollte das werden, die aber dann doch, natürlich, mitten hineinplatzte und bejubelt wurde, während die Früchte noch lange unbeachtet ihr Dasein fristeten im familiären Fach, in einem Schuhkarton, den Matthes dafür geopfert hatte aus seinem unerschöpflichen Vorrat. Das war es: Das letzte Weihnachtsfest hatte die Stipendienzeit geteilt, vorher war sie für drei Wochen in Nottuln gewesen und nach Silvester ebenso, im — Münsterland? Hieß es so? Ja, jetzt sieht sie den Münsteraner Bahnhof und die Buden davor, die nach altem Fett für Fisch, Pommes und Burger rochen, sie trägt den roten Koffer, nein, zieht ihn an der Hand hinter sich her wie an der anderen Lottchen, die blaue Tasche vorm Bauch, also Geld und Karten, um die sie hier fürchtet, in diesem Gedränge, sie muss auf den Bus warten, der irgendwann in der unablässigen Folge der Busse auftauchen wird, nie nach Fahrplan, nie vorhersehbar, was sie aber noch gar nicht weiß, als sie jetzt zum ersten Mal hier steht und nachsieht, auf dem Plan, den sie zu Hause noch ausgedruckt hat, wo er abfährt, schließlich steigen sie ein, als der richtige da ist, ein junges Mädchen sitzt ihnen gegenüber, dessen Koffer steht neben ihrem, er fällt um, als der Bus anfährt, das Mädchen springt auf, wirft im Aufstehen auch Helenes Koffer um, sie lachen, das Mädchen setzt sich schließlich wieder, möchte etwas sagen, auch Helene möchte, aber sie lassen es, das Mädchen liest, Helene schaut aus dem Fenster, auf Lottchen, das döst, ja, unter grauem Öl das platte Land, man kann es nicht anders sagen, sie fahren eine Weile über die Autobahn, verlassen sie dann, die Koffer haben sie inzwischen vom Stehen zum Liegen befördert, so können sie wenigstens nicht mehr umfallen, und rutschen können sie auch nicht, weil eine Frau mit Kinderwagen da steht, genau vor Helenes liegendem Koffer, der Bus hält, fährt, hält, hält schließlich in Nottuln, und das Mädchen steigt gemeinsam mit Helene und Lottchen aus, die Einzigen hier, sie schauen sich an, Helene ist unschlüssig, wohin sie sich wenden soll, das Mädchen nicht minder, und als es endlich einen Passanten fragt, wo die und die Anschrift zu finden sei, sagt Helene, dass sie genau da auch hinwollen, sie gehen zusammen, es sind vielleicht noch vierhundert Meter …

Glücklich ist sie über die Rückkehr des letzten Weihnachtsfestes und seiner Vorgeschichte. Das Mädchen Marlene hatte nach Ablauf der Zeit auch nach Berlin ziehen wollen, von Leipzig aus, sie war Absolventin des Literaturinstitutes und hatte gerade ein hoch geachtetes Debüt vorgelegt. Helene hatte ihr angeboten, die erste Zeit im Karlshorster Haus zu leben, bis sie eine geeignete und bezahlbare Wohnung gefunden haben würde. In S. blieb sie einen Monat länger als Helene, Matthes weißte eines der inzwischen, nach dem Auszug der Söhne, nur noch sporadisch genutzten Zimmer im Haus, sie hatten Bett, Tisch und Schrank wieder hineingeräumt, alles andere aber im Keller gelassen, und als Marlene kommen sollte, endlich, Ende Januar, hatte sie ihnen einen Absagebrief geschrieben: Sie hatte sich verliebt, konnte zu ihrer Freundin ziehen. Helene denkt an die Pause, die sie hatte einlegen müssen zwischen den Mitteilungen, dass Marlene sich verliebt hatte und dass sie zu ihrer Freundin ziehen würde.

Patricia fällt ihr ein, im Wohnheim, Medizinstudentin, vor so vielen Jahren. Sie war perplex gewesen, als Patricia, eine verheiratete Frau mit zwei Kindern, Helene nach einer Einladung zum Abendessen

Liebe

gestanden hatte, ihr Mann war nicht da, und Helene hatte sich das angehört und Patty einen Kuss auf die Stirn gedrückt, wortlos, war dann gegangen, während Patty mit tränenübervollen Augen dagesessen und ebenfalls nichts gesagt hatte, Helene war ihr von da an ausgewichen, aus dem Weg gegangen, immer scheu, immer dünner, als sie eigentlich war, und zwanzig Jahre später hatte Patricia plötzlich mit ihrer Frau vor Helenes Tür gestanden, nicht ohne Stolz und mit einer Würde, die sich gewaschen hatte. Ja, vor vier Jahren war das gewesen, sie hatten das neue Haus eben bezogen und waren dabei, Kisten und Kästen auszupacken, der Keller war überflutet, sie hatten eine Menge Ärger mit dem Bauträger auszustehen deswegen, konnten im Keller nichts lagern und fürchteten schon, die Feuchtigkeit würde sich im ganzen Haus ausbreiten. Mitten im schönsten Kladderadatsch hatte Patricia geklingelt, die Adresse hatte sie von einer Studienkollegin, zu der Helene Kontakt hielt, sie war extra von Eisenhüttenstadt hergekommen, um Helene wiederzusehen? Nicht ganz. Zwei Kinder waren zu den ersten beiden noch hinzugekommen, und diese, Zwillinge, sehr niedriges Geburtsgewicht, Retinopathie, besuchten in Berlin die Sehbehindertenschule seit einer Woche. Patricia hatte sie nach dem Wochenende zu Hause wieder hingebracht und die Gelegenheit genutzt, bei Helene vorbeizuschauen. (An die Namen der Jungen kann sie sich nicht erinnern, aber wer weiß, ob sie das unter anderen Umständen könnte.) Pattys Frau war Elektrikerin, sie hatte sie einfach» meine Frau «genannt, obwohl eine Lesbenhochzeit damals noch gar nicht möglich gewesen war, vielleicht waren sie ja in die Niederlande oder nach Dänemark gefahren, um zu heiraten, ging das überhaupt? und Helene hatte der drahtigen Blonden sehr offen in die Augen sehen und sie schön finden können. Nach zwei Stunden hatte Helene den beiden nachgesehen, wie sie Hand in Hand die Straße vor dem Haus überquerten und zu ihrem auf der anderen Seite abgestellten Auto liefen, wie sie nach einem nicht sehr flüchtig aussehenden Kuss einstiegen, und sie hatte sich, glaubt sie jetzt, gefragt, wie Matthes und sie selbst aussähen, wenn sie nach einem Besuch bei irgendwelchen Freunden deren Wohnung verließen und zu ihrem Auto schlenderten, sie küssten sich nicht, und sicher hätte sie in der Tasche nach dem Schlüssel zu kramen statt mit Matthes Händchen zu halten, sie würde die Tür aufreißen, sich auf den Fahrersitz fallen lassen und sich ungehalten wundern, wo Matthes so lange bliebe, der, wenn es dunkel war, garantiert an irgendeinem Baum stand, um zu pinkeln. Alte Ehe, denkt sie, dabei war Matthes ein Junge unter den Gleichaltrigen, noch immer unberechenbar, kapriolesk, einer, der die Erwartungen, in die er hineingeriet, frech unterwanderte und auf der anderen Seite als der erhofften plötzlich auftauchte, sein Grinsen war ansteckend, sein Lächeln nicht, aber sein vermeintliches, dem wirklichen meilenweit überlegenes Alter hat mit dem ihrer Ehe ja nichts zu tun, fast zwanzig Jahre sind sie nun offiziell aufeinander eingeschworen, ein Raunen steigt aus den Eingeweiden, und dass sie ihn im Innersten zu kennen glaubt, sein Verhalten aber auf der anderen Seite für imponderabel hält, gibt ihr plötzlich ein Rätsel auf.