fühlt
sie auf einmal die Existenz dieser Frau geradezu davon abhängen, dass Leuten wie ihr etwas zustößt. Dass Leuten wie ihr ein Riemengerüst auf den Kopf gesetzt und nach einem Herd gefahndet wird. Die Ärzte verdanken ihre Existenz der der Schadhaften, für die sie zuweilen mehr Spott und Häme als Respekt übrighaben, während umgekehrt der Respekt, den die Schadhaften Ärzten gegenüber zeigen, in Ehrfurcht oder blinden Gehorsam ausartet. Seltsam, wie die Welt eingerichtet ist. Eine Verkehrung der Tatsachen, würde sie sagen, wenn man sie fragte, aber hier wird keiner fragen. Danach nicht.
Die Burschikose gibt Anweisungen. Augen schließen. Beim Ertönen eines Pieptones bitte öffnen. Bei neuerlichem Piepen schließen. Es ist schummrig im hinteren Halbschlauch, Helene muss sich mühen, auf das Piepen zu achten, der Schlaf kriecht, dunkles Schneckentier, über die Haut. Aber da folgen schon die nächsten Anweisungen: Augen offen halten, eine Flimmersequenz zu Provokationszwecken stört das Schneckentier, das sich schneller, als es von einem solchen zu erwarten wäre, zurückzieht. Noch einmal. Und noch einmal.
Dazwischen immer wieder Kontrollen, ob die Elektroden sicher sitzen. Nun bitte schnell und tief atmen! Minutenlang. Helene denkt an die Luftmatratzen, die sie als Kind aufgeblasen hat, während ihre Eltern das Zelt zum Ostseecamping aufbauten, und daran, wie schlecht ihr dabei regelmäßig wurde. Sie wartet auf das Einsetzen der Übelkeit, aber nichts geschieht.
Zwanzig Minuten sind vorbei.
Zwanzig Minuten
Lebens
.
Heute kommt ihr aber auch gar nichts in den Sinn, alles ist blitzeblank, wie gewienert mutet das an, was sie vor sich sieht, grau, metallisch glänzend, eine abschüssige Bahn, auf der jeder Gedanke sofort abrollte, zeigte er sich. Zwei oder drei solcher Tage hatte sie schon, seit sie hier ist, sie weiß nicht, ob es sie
davor
auch gab. Nichts Greifbares zwischen die Synapsen, denkt sie und wundert sich, dass sie das denkt, wo sie doch eben noch bemerkt zu haben glaubte, nichts denken zu können. Von irgendwoher kommt also diese und jene Anmutung, aber ehe sie sich zur Kopfarbeit auswachsen könnte, ist sie tatsächlich abgerollt, fort, nicht unwiederbringlich, denn manchmal kehrt sie als Andeutung zurück, umschwirrt sie flügelschlagend, ist aber in dieser bewegten Aufgeregtheit nicht zu fassen und schnell wieder fort. Nun doch unwiederbringlich, fürchtet sie, und die Frequenz ihres Herzschlages geht über die des Schrittmachers hinaus. Sie freut sich, wenn ihr Herz von alleine schneller schlägt als sechzig Mal pro Minute. Freude und Furcht halten sich für einen Moment die Waage, dann siegt Letztere, das Herzschlagen geht unter im angstvollen Durcheinander der Gedankenfluchtfetzen. Zwingen will sie sich, zu Ruhe und Sammlung. Einem einzigen Fetzchen auch nur einen Augenblick länger nachhängen dürfen! Die Zwinge versucht, die Fetzchen zu kriegen, aber das ist verlorene Liebesmüh, sie weiß es, eigentlich, mühsam schließt sie die Augen, und unter den Lidern fliegen die Augäpfel. So unruhig, dass die linke Hand herhalten muss, sich festzukrallen am Bettrahmen. Weiß sind schließlich die Fingerkuppen, sie hält und hält die Hand fest ums Gestänge geschlossen. Schließlich schwindet der Zwang, die Augäpfel fliegen zu lassen. Mählich, aber er schwindet, und als sie die Hand langsam loslässt, ist ihr, als hätte sie einen Viertausendmeterlauf hinter sich, von dem sie sich schon ein bisschen erholt hat, sodass das wohlige Zittern der Schenkel zwar noch von Anstrengung spricht, der Atem jedoch schon lang genug ist. Eine Weile liegt sie noch so, dann stellt sie das Kopfteil des Bettes fast senkrecht und greift nach der Zeitung von gestern, die Matthes mitgebracht hat. Seit dem Sturz der Taliban ist das Verbot des Mohnanbaus zur Opiumherstellung kaum mehr durchsetzbar, liest sie. Die UN-Agrarbehörde rechnet mit einer Ernte von knapp
3000
Tonnen Opium, das für
300
Tonnen Heroin reicht. Was heißt das? Hatten nicht die Taliban versucht, als radikale Islamisten den Mohnanbau zu unterbinden? Wahrscheinlich stammt das Verbot noch aus der Zeit vor dem letzten Oktober, da die USA und ihre Verbündeten ihren seltsamen Anti-Terror-Feldzug begannen. Ah ja, da steht auch, dass Mullah Omar das Verbotsedikt erließ, der Führer der Taliban, und dass er großen Erfolg damit hatte, denn im vergangenen Jahr wurden nur noch
80
Tonnen Rohopium erzeugt. Da hat die Talibanherrschaft also wenigstens etwas
Gutes
gehabt (sie spitzt spöttisch die Lippen) — die drastische Beschränkung des Opiumanbaus. Aber war nicht die Behauptung, dass islamistische Taliban ebenso wie al-Qaida sich aus dem Opiumgeschäft mit Geld und Waffen versorgten, einer der Vorwände für diesen Krieg gewesen? Da stimmt etwas nicht, sie spürt es deutlich, kann es aber nicht sauber formulieren. Sie erinnert sich, in einem Film gesehen zu haben, dass der Mohnanbau auf der Welt per Satellit leicht zu enttarnen ist, sich nicht verbergen lässt. Es stimmte, dass die Taliban ihn rigoros eingedämmt hatten. Was hier nicht stimmt, hat mit den Amerikanern zu tun und ihrer Behauptung, dem Opiumanbau auf die Pelle rücken zu wollen. Seit der Besetzung Afghanistans ist er wieder in vollem Gange, ohne dass die Amerikaner Anstalten machten, entschieden dagegen vorzugehen. Ein Kriegsgrund hat sich also wieder mal als vorgeschoben erwiesen. Oder? Ihre Unsicherheit nimmt ihren Anfang tief drinnen, wo sie überlegen müsste, weshalb überhaupt die Amerikaner mit Verbündeten in Afghanistan einmarschiert sind. Verlogene Begründungen — diese Floskel ist ihr präsent, sie vermag das Abstraktum aber nicht zu konkretisieren. Abgesehen von Opiumanbau, aber der war nur ein nachrangiger Kriegsgrund.
Weshalb sind die Amis, verdammt noch mal, in diesen Krieg gezogen?
Da ist es: Das Bild der einstürzenden Türme … Wann war das? Im September, vor knapp einem Jahr, ein Ereignis, das sie mitsamt seinen Folgen ununterbrochen in Atem und Aufregung gehalten hatte seither! Bis Gott auf die Pauke in ihrem Kopf eingedroschen und abgeschnitten hatte, was von außen kam …
Gehen von ihr nicht vorsichtige Triebspitzen aus? Auf einmal bemerkt sie die gläserne Kugel um sich herum. An einer Stelle, einem winzigen Punkt nur, hat es eine kräftigere Ranke geschafft, das Glas zum Splittern zu bringen, und durch dieses Loch hat sie eben die einstürzenden Türme sehen können. Ja, nur so kann es sein: Sie muss diesen verdammten Efeu (oder was das für Zeugs ist) dazu bringen, die Kugel platzen zu lassen! Nicht ungefährlich, das Scherbenregnen, aber je dichter sie es ranken lassen kann, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass es auf sie zurückfallen wird. Sie kann es nicht fassen, dass es
die Welt
gibt da draußen, sie hatte bis heute Kanäle in die Vergangenheit zu graben versucht, die doch immer nur ihre eigene Vergangenheit gewesen war, hatte den Film zu rekonstruieren versucht, dessen Hauptheldin sie immer noch ist, und hatte dabei einfach nicht gesehen, wie abgeschirmt sie hier existierte, in welchem verdammten Schonraum! Hatte in die Wolken gesehen als in eine Glocke, die sich über sie spannte und an den Horizonten zu Ende ging, und die Katzen, die seither ihren Weg gekreuzt hatten im Krankenhausgelände, waren ohne Linien geblieben zu den in den Wäldern lebenden wilden, die sie früher immer mitgedacht hatte, und die Haferflocken im Müsli waren einfach aus der Tüte gefallen und der Laptop vom Himmel und der Stift aus der Federtasche. So einfach war das gewesen, dass für alles Zweifache, Mehrfache gar kein Platz geblieben ist, und ihre Augen waren voll gewesen und doch leer, sie merkt es jetzt, da das Gesehene zu schrumpfen beginnt und das Gedachte auf einmal hinzukommt, noch zögernd, noch stolpernd, wie es jedem Ding einen Halo verpasst und jedem Wort eine große lederne Blase, die sich mit anderen Blasen um andere Wörter überschneidet, wie sich die Schnittmengen konturieren und neue Worte in ihrem Inneren entstehen … Immer so weiter.