Выбрать главу

Und immer mit dem Kopf durch die Wand, auch wenn der jetzt zwei frische Knochenlöcher und eine sichtbare Stirnfuge hat und womöglich empfindlicher ist als gedacht.

Das EEG erbrachte den Herdbefund, natürlich, aber keine Erregbarkeitssteigerung, die Ärzte gehen nun wohl auch von Helenes Wahrheit, dem Aufspringenwollen, aus, jedenfalls deutet das Visitengemurmel in diese Richtung. Also keine Medikamente, aber verstärkte Beobachtung. Medikamente gegen Epilepsie hätte sie ohnehin abgelehnt — sie weiß, wie sie umfiel. Heidemühlen wird um einige Tage verschoben. Wut will hochkochen, aber ehe sie aufschäumt, kann Helene sie kleiner drehen. Glück gehabt.

Sie hockt im Bett, hat das Kopfteil wieder hochgestellt und das linke Bein angezogen. Das rechte bewegt sich auch, aber zu wenig. Also packt sie die Hose und zieht, bis es angewinkelt neben dem linken steht. Hastig wird mit der linken die rechte Hand gegriffen, beide Arme sind nun um die Knie geschlungen. Sie hält still. Vermutlich sieht das entspannt aus. Eine Zigarette möchte sie rauchen. In dieser Position könnte sie allerdings auch keine Tasse, kein Buch zur Hand nehmen — das rechte Bein rutschte unweigerlich auf die Matratze. Früher hätte sie das gekonnt. Früher, das heißt: vor sechs Wochen.

Früher aber hat sie nie so im Bett gesessen, weil das Bett zu Hause kein verstellbares Kopfteil hat. Während sie das denkt, ist ihr, als lehne sich jemand gegen ihren Rücken. Jemand mit spitzen Wirbeln. Sogar den Kopf spürt sie, von dem jetzt langes Haar über ihre Schultern fällt, es ist schon ein bisschen grau, der Jemand also nicht mehr ganz jung, kein hennarotes Haar wie bei der einen oder schwarzbraunes wie bei der anderen Tochter, die beiden scheiden schon mal aus, obgleich sie wohl ausreichend spitze Wirbel haben. Der Jemand fasst jetzt über seinen und über ihren Kopf hinweg und legt seine Hand auf ihre Stirn, dass sie zittern muss über die weiche Berührung, sie spürt den sanften Druck mit aller Deutlichkeit auch auf den von der Operation gefühllosen Knochenpartien, und langsam lehnt sie sich tiefer zurück und löst die fest verschlungenen Hände, dass das rechte Bein kraftlos auf die Matratze fällt. Auch das linke rutscht schleppend ab. So sitzt sie minutenlang.

Sie weiß, wer der Jemand ist.

Die Jemand, wenn sie es richtiger sagen soll.

Viola heißt sie.

IV. NERVATUREN

SO PLÖTZLICH IST VIOLA ÜBER SIE HEREINGEBROCHEN

, dass es ihr für den Rest des Tages die Sprache verschlägt. Zu anstrengend, nach Worten zu fahnden, die eine Antwort ergeben könnten auf die Fragen, die man ihr stellt. Stellt man ihr überhaupt Fragen? Wahrscheinlich. Die beiden Schwestern schauen sie lange an. Ihre Münder bewegen sich. Carola hält sogar ihre Hand, sehr nahe kommt ihr Gesicht, so nahe, dass ihre blonden Haarspitzen sticheln. Warum merkt sie das, hört aber nichts? Eigentlich will sie darüber nicht nachdenken. Anstrengend. Augen zu.

Viola hat ihre Gestalt offenbar nicht verloren in Helenes Kopf, sie aber irgendwo versteckt gehalten, hatte das Skalpell sie abgetrennt? Jetzt erhebt sie sich: großer, schon von Weitem männlich aussehender Körper, ovale Schädelform, sehr schmale Nase, Augen schnell irritiert und der Mund abschätzig nach unten verzogen, vorspringendes Kinn, bedauerlich verschnittener Pony, das dünne Haar zu einem Knötchen verzwirbelt, lange Finger, lange Füße, Brust eingeebnet im Bauchansatz. Abgetragene Hosen, ein Strickpullover, beige, ein Parka, tarngrün, darüber.

Irgendetwas an ihr hatte Helene verwirrt, als sie sie zum ersten Mal sah, ohne dass sie hätte sagen können, was. Als Viola sich aber vorgestellt hatte, fiel es Helene wie ein Fallbeil auf die schon ausholende Zunge. Wie heißen Sie? Stellen Sie sich vor, ich habe Viola verstanden! hatte sie sagen wollen, schloss aber im gleichen Moment den schon geöffneten Mund: Viola hatte mit einer Männerstimme gesprochen. Tatsächlich hatte sie Viola für einen Mann gehalten, es wäre ihr nicht eingefallen, etwas anderes zu sehen, als ihr die Augen vorgaukelten. Dieselben Augen, die sie gerade noch davon abhalten konnte, Violas Brüste zu suchen, um all das, was sich in Sekundenbruchteilen in ihr vollzogen hatte, zu verifizieren. Errötet war sie auf der Stelle und hatte Violas kühles Lächeln, von oben herab, mit geradezu unterwürfiger Demut über sich ergehen lassen. Schuld. Das Gefühl war so unverhofft gekommen wie die Sonne, die dem im grauen Novemberanfang stattgehabten Kennenlernen ein plötzliches Strahlen spendierte. Eigentlich war das Strahlen dem Park von Sanssouci, in dem sich das Ereignis zugetragen hatte, angemessen, aber der Tag hatte Helene bis dahin nur an das Wischwasser denken lassen, das sie nach gründlicher Reinigung des ganzen Karlshorster Hauses regelmäßig ins Klobecken schüttete. Bleiern und seimig. Und so hatte sie wie ein begossener Pudel im überraschenden Sonnenschein gestanden, die Schultern eingezogen, während Violas Gesicht sich langsam aus der antrainierten Hochnäsigkeit verabschiedet und etwas wie Rührung um den Mund herum gezeigt hatte. Später hatten sie beide nichts Genaues sagen können über die Dauer der Szene, Viola veranschlagte sie entschieden länger als Helene. Als die Zeitlupe sich auflöste, hatten sie einander die Hände geschüttelt, und jede war ihrer Wege gegangen.

Jedenfalls hatten sie das damals für wenige Augenblicke geglaubt, bis sie sich nacheinander umgedreht und Helene sich vor den Kopf geschlagen hatte: Ihr Kennenlernen war ja nicht aus (inzwischen) heiterem Himmel erfolgt! Viola hatte ihr per Post nicht mitteilen wollen, wie sie hieß. Getroffen hatten sie sich in Sanssouci, weil Viola in Potsdam wohnte, und wer etwas von ihr wollte, war Helene gewesen. Deshalb war nicht etwa Viola nach Berlin gekommen, denn Viola hatte eigentlich nichts von Helene gewollt. Deren himbeerrote Schulledertasche hatten sie als Erkennungszeichen vereinbart, Helene ist sich heute noch sicher, dass es eine solche Tasche kein zweites Mal gibt. Der Grund für ihr Treffen …

Matthes kommt. Unterbricht.

Nein, sprechen möchte sie heute nicht mehr.

Sie sieht: Matthes sorgt sich nicht um sie. Ihr Schweigen nimmt er vielleicht als eine ihrer Eskapaden, schließlich hatte sie immer mal wieder das Reden eingestellt, wenn auch nur für kurze Zeit, eine halbe oder ganze Stunde, dann hatten sich die Worte, seltsam nackte Lemminge, wieder ganz von selber aus ihrem Mund gestürzt. Wahrscheinlich nimmt er es sogar als gutes Zeichen, dass ihre Schweigeanfälle zurückkehren, die er als Protest zu deuten gelernt hat. Gegen seine dämliche Art, ihr die Lemminge im Mund noch umzudrehen, dass sie nach dem Sturz in wilden Haufen Unruhe verbreiteten. Zwar hat er, seit sie im Krankenhaus ist, nie daran gedacht, das zu tun, er ist, im Gegenteil, fürsorglich und versucht, Wünsche auch ohne Gesprochenes zu deuten, aber vergessen hat er es sicher nicht. Ihr ist es recht, ihn reden zu sehen. Eine natürlich anmutende Grenze ist zwischen Matthes und Viola gezogen, und diese Grenze verläuft mitten durch sie hindurch — wenn sie die Augen schließt, schmerzt es entlang der Linie.