Augen auf, hören Sie?
Der Typ vom Krankentransport ist ein schlaksiger junger Mann. Die Überlegenheit, die er ausstrahlt, verletzt sie. Daran wird sie sich gewöhnen müssen. Ihr Rollstuhl wird in den Wagen verfrachtet und festgeschnallt. Die Scheiben sind zu zwei Dritteln aus Milchglas, nur, wenn man den Kopf reckt, kann man etwas sehen, als die Tür geschlossen ist. Als sie sich im Wagen umsieht, sitzt da Matthes. Muss vor ihr eingestiegen sein. Sie wundert sich nicht. Oder? Heute ist sein Geburtstag. Sie hat kein Geschenk für ihn. Streckt ihren linken Arm nach ihm aus und hofft mit den Augen sagen zu können, dass sie ihm alles Gute wünscht. Besser als mit dem Mund. Matthes greift ihre Hand und drückt sie, seine Hand ist warm, sein Griff so vertraut, dass sie nicht mehr loslassen und sich die ganze Fahrt über verklammert daran festhalten möchte. Es ist nicht weit nach Heidemühlen, eine Dreiviertelstunde mit dem Auto, vielleicht. Matthes sagt nichts, er schaut aus dem Fenster, mit ihrer Hand in seiner rechten, die linke darumgeknüppert. Zwei Geschlagene, denkt sie, die nichts mehr sagen müssen.
Sie sagen nichts.
Baumstämme sieht sie beim Blick aus dem Fenster, dahinter Wiesenland. Wenige kleinere Ortschaften dazwischen. Tasdorf erkennt sie am abgeschlagenen Putz einer Hausruine, die an der durchquerenden B
I
liegt. Nur die Fensterreihe des ersten Stocks zieht an ihren Augen vorbei. Vor zehn Jahren war der Putz genauso abgeschlagen wie vor fünfzehn. Eigentlich erstaunlich, dass das Haus überdauert. In der Nachbarschaft sind einige neu gebaut, andere zumindest notdürftig befestigt worden. Wer hier wohnt, hat Pech, aber die wenigsten werden für diese Straßengrundstücke viel Geld bekommen, sodass sie sich wohl darauf einlassen werden dazubleiben. Die Alten zumindest. Sie erinnert sich, dass die Eltern der Sprechstundenschwester der neurologisch-psychiatrischen Fachambulanz in den frühen Achtzigern an der B
I
wohnten, in einem heruntergekommenen Haus mit Plumpsklo, mit warmem Wasser nur nach Anheizen des Kessels im Waschhaus über den Hof. Zum Glück wohnten sie» nur «zur Miete hier, konnten sich also irgendwann nach der
Wende
umstandslos aus dem Staube machen und ihre alten Tage in einer besser gelegenen und gut ausgestatteten Wohnung zubringen.
Helene seufzt.
Matthes sieht sie fragend an, aber sie sagt noch immer nichts.
Sie ist überrascht, wer ihr in den Sinn kommt. Die Eltern der Sprechstundenhilfe hatte sie nie kennengelernt. Sie waren als abwesende Altgespenster eines Morgens durch das Frühstücksgespräch gestolpert, das immer um neun Uhr dreißig im gemeinsamen Vorraum der drei Arztzimmer stattfand. Die Psychologin des Erwachsenenbereiches kam ebenso aus ihrem Kellerraum des Henrichshorster Krankenhauses dazu wie sie selbst, die in einem abgelegenen Gangkabäuschen neben der Aktenaufbewahrung als Kinderpsychologin residierte. Damals hatten ihr noch der gestreifte und der karierte Rock gepasst, die in einem Koffer auf dem Dach nach wie vor auf wieder dünnere Zeiten warteten. Sie konnte sich von Klamotten schwer trennen. Ihre Töchter hingegen räumten regelmäßig ihre Schränke leer, um Neuem Platz zu machen. Keine Frage, ob da etwa irgendetwas zu klein oder zu groß war, allein die Mode machte das Rennen. Was ihr
Werte
gewesen waren, waren den Töchtern natürlich keine. Ihrer Urgroßmutter mochte es mit ihr ebenso ergangen sein. Wie sie, hochbetagt, maschinell gestrickte, alte Kleider aufgetrennt hatte, um sie zu Socken und Handschuhen zu verarbeiten! Auch von den Bergen dieser Wolle hat sich Helene nie trennen können, sie dümpelt noch immer in einem riesigen Umzugskarton im Keller herum und hatte in den ersten Jahren ihrer Ehe zu wiederkehrenden Matthesfragen geführt, der sie entsorgen wollte. Irgendwann hatte er das offenbar aufgegeben. Als sie sich in diesem Moment fragt, woran die Herzen ihrer Töchter wohl hängen mögen, fühlt sie sich so weit von ihnen entfernt, dass ihr schwindelt.
So, nun mal schön aussteigen, die Herrschaften!
Es trifft sie, aber sie kann sich nichts anmerken lassen. Lässt den Rollstuhl aus dem Wagen heben. Matthes schiebt sie in die Rehaklinik, zum Aufnahmebereich. Der Fahrer wird ungeduldig, will ihr den Rollstuhl wohl am liebsten unter dem Arsch wegziehen, um abhauen zu können. Nun ist es an ihr, Überlegenheit zu zeigen.
Zimmer
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. Unsere Mitarbeiterin kommt, um Sie einzuweisen. Fahren Sie erst mal hoch und schauen sich um!
Sehr langsam lenkt sie den Roll- zum Fahrstuhl, Matthes wartet auf Unterlagen, springt dann schnell noch hinein. Als die Tür sich schließt, sieht sie mit Vergnügen das ärgerliche Gesicht des Fahrers, der sich vor der Tür eine Zigarette anzündet.
Von der dritten Etage sehen sie zuerst einen großen, einladend aussehenden Essbereich, als sie den Fahrstuhl verlassen. Die Leute, die dort beim Mittagessen sitzen, können nicht alle allein essen. Einige werden gefüttert, andere versuchen, mit zittrigen Händen Löffel zum Mund zu führen. Ihr wird schlecht.
Sie fährt zielsicher auf ihr Zimmer zu. Zielsicherer als Matthes, der in solchen Situationen Zeit braucht, sich zurechtzufinden. Aha, daran hat sich also nichts geändert. Sie spürt Stolz, den sie im gleichen Augenblick einfach lächerlich findet. Matthes? Sie sieht sich um, er hat nichts bemerkt. Stattdessen fragt er ins Schwesternzimmer hinein nach jener Person, die sie aufnehmen will. Die kommt und schließt auf, es ist ein schönes Zimmer. Ein Krankenbett mit allen technischen Schikanen steht darin, von links und rechts zu umturnen. Ein Fernsehgerät. Ein Sessel. Ein Schrank. Vom Fenster hat man einen weiten Blick hinunter zum See, der sich in geringer Entfernung in die Hügel schmiegt. Es wird schwieriger sein als bisher, sie ohne Auto zu erreichen. Matthes fährt nicht Auto, obwohl er sich die Fahrschule schon seit vielen Jahren vornimmt. Trotzdem beruhigt sie der Gedanke, hier zu sein.
Ein Pfleger bringt einen klinikeigenen Rollstuhl und nimmt den anderen mit hinunter. Eine Viertelstunde ist vergangen, seit sie den Fahrer unten stehen ließen.
Sie ist zufrieden.
Der erste Nachmittag in Heidemühlen.
Matthes ist nach Hause gefahren, sie haben über den Geburtstag nicht weiter gesprochen. Er wird Besuch bekommen von Eltern und Tante. Vielleicht von Raphael? Der wird es sich zumindest nicht nehmen lassen, heftig zu gratulieren. Für Kuchenbacken wird Matthes weder Zeit noch Muße gehabt haben, sie vermutet: Eis mit Beeren. Augenblicklich zieht eine Spur Vanille über die Geschmacksknospen. Phantomgeschmack. Den hat sie öfter in letzter Zeit.
Sie liegt auf dem Bett, in einem Jogginganzug, den Matthes ihr geschenkt hat zu seinem Geburtstag, und will sich wieder zu einer Art Ruhe zwingen, mit der sie einem Gedanken zu folgen vermag, statt viele splittern zu sehen.
Violas Name … Verflucht noch mal, wie hieß sie mit Zunamen? Gibt es das? Dass ihr der nicht einfallen will? Sie tänzelt im Halbdunkel, Gardinen hat sie zugezogen, um Viola herum — es bleibt dabei: kein Zuname für die Violaperson, deren Existenz zwar sicher, deren Verbleib aber ein Rätsel für Helene ist. Die Unsicherheit dehnt sich aus, sie schwimmt im blinden Fleck, ohne einen Haltepunkt zum Ausruhen, zum Verschnaufen zu haben. So wird sie bedrohlich, Helene will ihr entkommen und sich aufrappeln, in den Rollstuhl, aber die Hand ist zu fahrig, als dass sie ihn neben das Bett ziehen könnte, und in dem Moment, da sie darüber heulen und schreien möchte, rückt sie an: die Erinnerung. Rückt an mit Paukern und Trompetern, die in einer geöffneten Betonmuschelschale Marschmusik intonieren, Radetzky erkennt sie und Graf Zeppelin, und nun hält sie die Hände an die Ohren und drückt mit beiden Zeigefingern in schnellem Rhythmus immer wieder den knorpeligen Fortsatz am Beginn der Gehörgangs fest an. Auch das Ohr kennt eine Flimmerverschmelzungsfrequenz, muss sie jetzt denken, denn was sie hört, bleibt jenseits davon und ist eine schnelle Abfolge von Einzeltönen, die keinen Bogen ergeben, keine Melodie. Sie muss lachen, dreht sich um — zu Viola, die den Kopf schräg hält und nach Helenes Händen greift, langsam, sie schiebt sie hinunter. Helene schließt lächelnd die Augen, als Viola sie küsst. Zum ersten Mal. So selbstverständlich kommt ihr das vor, dass die Marschmusik aus der Muschelschale zum schirmenden Cape um sie herum wird, unter dem Stille herrscht. Kein Geräusch durchkreuzt den Moment, der sich dehnt wie vordem die Unsicherheit, und als sie sich voneinander lösen, ist Helene auf eine ruhige Weise entrückt.