Natürlich wurde nichts daraus. Vielmehr kam er am Morgen und verabschiedete sich. Nur mit einem kleinen Blinzeln gab er ihr zu verstehen, dass es misslungen war.
Was soll’s. Er kann ja nicht Arbeit und Leben riskieren, sie hier rauszubringen.
Wenn die Blonde anrückt, wird sie unruhig. Immer fummelt die Blonde an den Monitoren herum und gehört mit Sicherheit zu denen, die sie fernsteuern. Sie schläft ein, wenn die Blonde diese Säcke über ihrem Kopf an den Haken hängt. Obwohl sie nicht schlafen möchte, schläft sie ein. Viele verschiedene Säcke hängt die Blonde nacheinander über ihr auf.
Manchmal, wenn sie munter ist, kommt der Trupp Männer vorbei. Immer noch fragt sie mindestens einer, ob sie ihn höre. Immer noch ist sie zu verstockt, um darauf zu antworten. Immerhin ist sie nicht
1972
geboren worden und wohnt nicht in Hückelhoven. Wenn die sie nicht verwechselt hätten, würde sie vielleicht eher eine Chance haben, hier rauszukommen. Es lohnt sich nicht, den Mund aufzumachen und sich zu bemühen: Sie würden es sowieso nicht glauben.
A-fa-sie.
Natürlich kennt sie das Wort. Aber was bedeutet es nur? Warum fällt ihr das nicht ein? Irgendwoher kennt sie es. Als der Mann im blauen Kittel es aussprach, kam es ihr gleich bekannt vor. Anfang sieben, möchte sie laut sagen. Ja, Afasie könnte eine Abkürzung sein für Anfang sieben! Gegen sieben beginnt hier die Nacht. Sicher werden sie wieder zusammengepfercht, spiralig ausgerichtet, wenn sie ihnen das Bewusstsein abgenommen haben mit ihrem Sack voller Flüssigkeit. Wer stirbt, beobachten sie von außen durch die Glasscheibe. Sie ist so gleichmütig geworden. Wenn sie heute Nacht sterben sollte, wäre das gut, sie wird sich nicht dagegen auflehnen. Warum auch? Sie hat das letzte Geheimnis doch schon erfahren: Sie machen Quaderchen aus den Leuten und stellen sie in die Landschaft.
Anfang sieben also.
Sie nimmt Abschied. Ihre Zeit ist gekommen.
Nanu, sie ist ja noch immer am Leben?
Es ist dunkel. Im Sommer ist es nur in den Nachtstunden dunkel, nicht am Morgen oder am Abend. Also herrscht Nacht. Warum liegt sie nicht in der großen Spirale mit den anderen? Vielleicht hat sie wieder unerwarteterweise als Einzige überlebt? Wenn die Aktion Anfang sieben begonnen hat, war sie vielleicht gegen neun schon zu Ende, und sie haben sie zurückgebracht.
Irgendetwas juckt unerträglich auf ihrem Kopf, sie will sich kratzen. Will auch die rechte Hand sie kratzen? Nein, will sie nicht. Sie liegt wie abgeschnürt auf der Bettdecke. Also muss sie es mit der linken versuchen. Sie reißt sie gegen alle Widerstände hoch, und tatsächlich, sie kann ihre Haare anfassen. Aber da, wo es juckt, hat sie keine Haare. Was ist mit den Haaren passiert? Deshalb haben sie ihr Bild von sich geklaut! Ha, sie wird es zurückerobern, das verspricht sie sich. Mit aller Kraft beginnt sie, die Finger über die Kopfhaut zu ziehen. Sie kommen nicht weit. Kleine metallene Panzersperren stecken im Schädel, sie versucht, zwei oder drei herauszubrechen. Plötzlich spürt sie die Flüssigkeit an den Fingern. Sie kostet. Das ist Blut! Woher nehmen die das Recht, diese Panzersperren in ihre Schädelplatte zu rammen? Sie beginnt zu schreien, sich im Bett, in dem sie unzweifelhaft liegt, herumzuwerfen.
Jemand kommt. Die Blonde? Tatsächlich. Auch das noch. Mürrisch sieht sie auf sie herab.
Ach Mensch, muss das denn sein? Nun kann ich Sie wieder waschen und umziehen. Zur Strafe werde ich Sie fixieren und Ihnen die Decke wegnehmen. Wer weiß, was Sie sonst noch alles anstellen!
Sie mosert weiter, während sie an ihr herumputzt. Die Panzersperren wieder richtet. Die Fingernägel vom Blut reinigt. Als sie fertig ist, bindet sie den linken Arm und das linke Bein mit einem Stück weißen Stoffs am Bettrand fest. Das Bett kommt ihr rund vor.
Da, sie hängt schon wieder einen Sack an den Haken!
Als sie aufwacht, friert sie. Friert sehr. Es ist kalt hier, die Blonde hat ihr doch tatsächlich die Decke weggenommen. Jetzt erstattet sie einer anderen Frau im ebenfalls blauen Kittel Bericht. Die beiden stehen ein Stück ab von ihrem Bett.
Frau Kiering, Yvonne
, sagt die Blonde.
Lungenriß nach Verkehrsunfall.
Schon wieder. Sie wird noch immer verwechselt. Die Blonde sagt, Yvonne Kiering habe die Nacht ruhig geschlafen.
Natürlich sieht sie sie nicht einmal an, wenn sie solche Lügen verbreitet.
Oder spricht die etwa gar nicht über sie? Sie versucht, langsam, an deren Blick entlangzuwandern. Gelangt an ein anderes Bettgestell, eine andere Frau darauf. Sie scheint nicht bei Bewusstsein zu sein. Sie hat Schläuche in Mund und Nase, am Arm und in der Leiste.
Wo kommt die denn so plötzlich her? Ist sie vielleicht gar nicht die Einzige, die nachts überlebt?
Fragen über Fragen.
Fragen über Fragen. In ihrem Kopf rattert es, wenn sie wach ist. Irgendwie ist sie jetzt länger wach. Deshalb kann es auch länger rattern.
Yvonne Kiering! Geboren
1972
und wohnhaft in Hückelhoven! Jetzt hat sie’s! Sie lacht laut, freut sich, dass sie dahintergekommen ist. Sie will es der Dunkelhaarigen sagen. Die turnt gerade mit Yvonne Kiering herum. Aber die ist doch ohnmächtig! Seit wann kann man denn mit Ohnmächtigen herumturnen? Ach, ist das dumm, dass sie nichts sagen kann. Warum kann sie eigentlich nichts sagen? Im Kopf formt sich doch vor, was sie sagen möchte. Aber es kommt nicht aus dem Mund heraus. Sie hebt die linke Hand mit Schlauch an den Mund. An die Nase. Was, sie hat da auch solche Schläuche wie Yvonne Kiering? Jetzt reicht’s aber. Entschlossen zieht sie. Es tut nicht weh. Sie zieht und zieht. Die Dunkelhaarige schreit auf. Kommt an ihr Bett. Betrübt fragt sie, ob es ihr nicht geschmeckt hat.
Hat es Ihnen denn nicht geschmeckt?
Aber ein bisschen lächelt sie auch.
Es klopft.
Ihr Mann kommt, Frau Wesendahl.
Wesendahl … Ihr Mann kommt. Heißt er auch Wesendahl? Ehe sie darüber nachdenken kann, macht ihr Mann einen Schritt zum Waschbecken hin. Er zieht ein Pflaster ab und nimmt einen Verband vom rechten Auge. Nanu, was hat er denn? Sie würde ihn schon gerne fragen, wirklich. Als er ans Bett tritt, weint er. Hat sie etwa ein Kind bekommen? Das letzte Mal sah sie ihn weinen, als ihre jüngste Tochter geboren wurde. Das ist jetzt fünf Jahre her, und er stand genauso an ihrem Bett wie jetzt. Sie schaut vorsichtshalber nach, ob sie ein Kindsbündel an der Brust hat.
Nein.
Na, das war ja auch nur vorsichtshalber.
Ist er augenkrank? Das würde das Weinen erklären.
Warum hat sie, seit sie hier ist, noch nicht an die fünfjährige Tochter gedacht? Und — sie hat ja noch eine! Und noch eine! Fünf, vierzehn, achtzehn, zwanzig, dreiundzwanzig — ja, wirklich, sie hat ja fünf Kinder! Erstaunlich, was einem so alles einfällt.
Dreihundertsiebenundzwanzig minus acht mal siebzehn. Die Minusaufgabe in Klammern. Das macht dreihundertneunzehn mal siebzehn. Dreihundertzwanzig mal siebzehn sind … fünftausendvierhundertvierzig. Davon noch siebzehn abgezogen, macht fünftausendvierhundertdreiundzwanzig.
Ein Stück von ihren Füßen entfernt, in der Zimmerecke, steht ein Tisch. Zwei Becher Joghurt darauf. Fruchtjoghurt. Schriftstücke. Und ein Bild. Sie versucht, sich zu recken, ist neugierig. Aber das bin ja ich! Das ist doch das Bild von ihr, das sie geklaut haben! Sagte sie nicht, dass sie es wiederkriegen würde? Sie sieht ganz deutlich halblanges dunkles Haar, schmales Gesicht, volle Lippen. Augenfarbe? Das Bild ist schwarz-weiß, es ist nicht zu erkennen. Waren ihre Augen nicht blau? Sie versucht, sich ihre Augenfarbe vorzustellen. Blau. Bei Sonnenschein mit einem Stich ins Wässrige, bei trübem Wetter mit dunklen Sprenkeln durchzogen. Sie ist so froh, dass sie ihr Bild wiederhat.