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Nein, Abendbrot essen will sie heute nicht.

Die Schwester geht achselzuckend.

Helene schmiegt sich ins Erinnern und liegt als gekrümmtes Etwas im Bett, als die Schwester zur Nachtwäsche wiederkommt.

Viola, Maljutka …

Die Schwester schaut fragend,

was sagen Sie?

, in Helenes plötzlich weit aufgerissene Augen.

Maljutka.

Kleine.

Junge?

Eine Fünfzigjährige …

Sie heißt Malysch, natürlich.

Viola Malysch kommt nicht langsam, sondern im Sturmlauf zu Helene. Zurück? Darüber denkt sie nicht nach.

Der Kuss hatte in Zinnowitz stattgefunden, im Ostseebad. Winter des vergangenen Jahres. Die letzten Tage vor Weihnachten. Gerade war Helene aus dem Münsterland heimgekehrt. Verabschiedet hatte sie sich nicht von ihrer Familie, sondern einfach einen Zettel auf den Tisch gelegt. Bin Heiligabend wieder da.

Auf dem Weg zum Ostbahnhof hatte sie so tun müssen, als nähme sie Berlin für lange Zeit zum letzten Mal wahr. Die Dampfpilze des Kraftwerks Rummelsburg stachen weiß in den Himmel. Vor der Umstellung von Kohle auf Erdgas

1988

hatten sie grau ausgesehen. Sie erinnerte sich daran, weil sie jahrelang jede Woche viel Zeit mit den Kindern in der Musikschule Lichtenberg verbracht hatte. Vorwendlich und nachwendlich. Ununterbrochen waren ihr kleine Kinder nachgewachsen, die den Weg noch nicht allein zurücklegen konnten. Die ersten Jahre waren sie mit der S-Bahn gefahren. Im Nachwendejahr war sie auf die

1988

begonnene Fahrschule zurückgekommen. Eigentlich hatte sie sich nach der Theorie und den ersten praktischen Übungen im Trabant Kübel auf dem Idiotenplatz in Schönefeld davon verabschiedet, weil sie gemeint hatte, niemals genug Geld für ein Auto zu besitzen, für das sie noch dazu keine Bestellung aufgegeben hatte. Nach

1989

hatte auch diese Überlegung ihren Sinn verloren. Sie legte die Prüfung ab. Das erste Auto war ein Wartburg gewesen. Damit waren sie schneller zur Musikschule gekommen, auch wenn auf der B

I

immer wieder gebaut wurde. Dass der graue Pilz des Heizkraftwerkes der Stadt ebenso den Atem genommen hatte wie der Rauch der vielen Kohleöfen, der über den alten Siedlungsgebieten hing, war ihr erst klar geworden, als sich, Jahre nach der Wende, dort plötzlich freier Luft holen ließ. Man hatte

saniert

So weiß, war der Dampf Unschuldslamms Lockenpracht. Sie sah ihn, und etwas in ihr zog sich zusammen.

Erst, als sie Tage später zurückkam, wusste sie, was es gewesen war: Sie hatte gespürt, auf eine Reise in den Verlust ihrer Unschuld zu gehen. Das, was sie in irgendeinem unzugänglichen Winkel ihres Kopfes für ihre Unschuld hielt, auch wenn sie es, hätte man sie danach gefragt, lauthals verneinend verlacht hätte.

Die Bröckelkulisse des Bahnhofes Ostkreuz hatte immer wieder Vertrautheitsgefühle zur Folge, sie übersah den Bahnsteig einfach mit seinen Buden und Verkaufstheken, sah nur den Penisturm, dessen Aufragen jeden Moment der Erschlaffung zu weichen drohte, sah die Ruinen auf der dem Bahnsteig abgewandten Seite und fühlte sich daheim. Im Ruinösen. Noch zwei Stationen bis Ostbahnhof, und der Zug ruckelte weiter durch einen ebenso ruinösen Schacht. Sie glaubte, sich die verfugten Ziegel einprägen zu müssen, und schloss immer wieder für Momente die Augen. Als der Zug in Warschauer Straße hielt, waren es die Pflastersteinlöcher des Bahnsteiges, die sie als Geisel nahmen, sodass sie, als sie in Ostbahnhof ausstieg, aufatmete: Hier fiel Erinnern schwerer. Hier hatte man aufgeräumt. Die Wahrnehmung ist ein komisches Ding, hatte sie noch gedacht, als auch schon der Zug aus Potsdam einlief. Rotgesichtig stieg Viola aus und stolperte ungelenk auf Helene zu, ihr Gesicht schien hart verkniffen, konnte aber sporadische Anfälle von Erlösung nicht verleugnen, die besonders dann auftraten, wenn Helene ihr fest in die Augen zu sehen versuchte.

Betör mich, Maljutka, Malysch, mach mich süß.

Ganz plötzlich waren diese sieben Worte dabei, sich einfach aus ihrem Mund zu wickeln, sie konnte sie eben noch zurückhalten, aber ihr Aussehen hatte sich schon ins Betörte verändert. Viola sah es. Und ihr Gesicht tat es dem Helenes für einen Moment gleich.

Sie berührten sich nicht, wenn man vom Händeschütteln absah, an dem man, wie Viola meinte, die Ostdeutschen noch immer erkennen konnte. Als Nichtostdeutsche hätten sie sich, vermutete Helene, links und rechts auf die Wange geküsst. Das wäre ihr aber keinesfalls intimer vorgekommen. Die Fahrt über sprachen sie wenig, wichen dem Blick der anderen immer wieder aus, auch, weil Helene nicht fassen konnte, was ihr geschah (sie war drauf und dran, sich heillos zu verlieben!), und Viola (sie hatte sich bereits heillos verliebt …) ihrer selbst immer unsicherer wurde. Gepäck hatten sie kaum, hatten beide nur Unterwäsche eingepackt, einen Pullover und Waschzeug. Pasewalk. Anklam. Helene hielt die Augen geöffnet und stierte ins Weite. Eben war sie unterwegs in der Idee, die sie sich von Violas Gesicht machte, das sie nicht sah. Beinahe hätte sie den Rucksack liegen gelassen, als sie in Züssow plötzlich zum Ausstieg gedrängt wurde. Der Anschlusszug wartete. In Zinnowitz früher Abend, es dunkelte, und als sie auf dem Weg in die katholische Begegnungsstätte waren, in der Viola ein Zimmer für sie gebucht hatte, zwei Freundinnen, hatte sie angegeben, als sie gefragt worden war, tönte laut die Marschmusik aus der Muschel, dem Musikpavillon.

Plötzlich Stille. Der Kuss.

Und: die Nacht.

Die Nachtschwester will sie also waschen. Helene will das alleine machen. Vom Rollstuhl unter die Dusche zu kommen, schafft sie aber nicht. Die Schwester greift zu. Griffe

Maljutka Malysch

zu — sie weiß plötzlich nicht, ob das besser wäre. Eine Erleichterung? Irgendetwas steht ihr im Wege, als sie sich Viola bei sich vorstellt. Da fällt ihr ein: Sie spricht hervorragend Russisch. Helene spricht gut Russisch, nicht hervorragend. Nein, sie sprach gut Russisch, sie möchte lieber nicht in die Verlegenheit kommen, es ausprobieren zu müssen.

Malysch

? Das bezeichnet im Russischen den kleinen Jungen, den Knirps, man sagt es auch unter Männern, vielleicht ein bisschen abwertend? wenn man den anderen nach den Umständen fragt:

Na, Kleiner, wie geht’s?

Viola hieß»kleiner Junge «mit Zunamen und wollte doch lieber

Maljutka

sein, die Kleine, das Mädchen. Maljussenkaja gar, Kleinchen, aber solch zärtliches Wort findet sich im Deutschen gar nicht, das russische auch nur annähernd wiederzugeben. Helene hatte es schließlich bei

Maljutka Malysch

belassen, zweideutig war’s, eben so, wie Viola ihr wirklich erschien, stückweis Mann, stückweis Frau, je nachdem, je nach Lage, je nach Gusto, je nach Wunsch. Und gewünscht hatte sie sich?