Sie weiß es nicht.
Sie weiß aber, dass ihre erste Nacht sie nicht hatte leer ausgehen lassen, so wenig sie auch auf sich selbst geachtet hatte, sondern Maljutka Malysch unter die Haut gekrochen war, schließlich, und sie hatte sich nicht fragen müssen, was sie da tat.
Daran zu denken, lässt etwas anschwellen. Wie vor einigen Wochen, als Carola sie unter der Dusche wusch und sie an Matthes dachte.
Matthes. Maljutka Malysch.
Maljutka Malysch. Matthes.
Wenn sie sich zwischen zwei Polen bewegte, die sich abstießen, weil sie gleich stark waren, wie war es da um die eigene Ladung bestellt?
Vielleicht, denkt sie, hatte ja der Aufenthalt in diesem enormen Spannungsfeld zum Kurzschluss in ihrem Hirn geführt.
Hinter den Dünen des Schlafs rauscht es. Es braucht lange Minuten, bis sich das Rauschen heraufgeschleppt hat, Träume vertreibt und jetzt laut und deutlich im Raum steht. Helene macht Licht, greift zur TV-Fernbedienung:
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36
Uhr laut Videotext. Was rauscht hier? Die Nachtschwester hat das Fenster offen gelassen. Draußen muss schwerer Wind gehen, er dröhnt, jetzt hört sie es überm Rauschen, hochfahrend vorbei. Der Wald tönt, hinterm Haus fällt er ab, zum See hinunter, und es ist ihr, als käme er immer näher, um irgendwann seine belaubten Äste durchs Fenster zu schieben. Dennoch möchte sie sich nicht aufhieven, es zu schließen, zieht stattdessen die Decke noch ein Stück höher: Warm ist es drunter, durchs Fenster strömt Kälte ein. Der Herbst kommt, lässt sich nicht verleugnen.
Immer im Herbst kommt tiefe Melancholie …
Mit diesem Satz hatte Matthes sich für gewöhnlich aus der Affäre gezogen, wenn er auf ihre herbstlichen Traurigkeitsanfälle im November nicht reagieren konnte. Meist war er geflohen und hatte abwarten wollen, bis sie vorbei waren. Fast zwanzig Jahre lang war das gut gegangen: Er hatte bis Anfang Dezember in einem anderen Zimmer geschlafen, in der ersten Wohnung bei den Kindern, in der zweiten in der Diele, in der dritten im Esszimmer, und seit sie das Haus bewohnten, schlief er in seinem Arbeitszimmer unter dem Dach. Letztes Jahr nun hatte Maljutka Malysch dort Platz genommen, wo sich sonst der Trübsinn fläzte. Dass Helene heiter und aufgeräumt gestimmt gewesen sei, kann man kaum sagen, aber auch Melancholie war ihre Sache im letzten Herbst nicht. Sie hatte sie vorgespielt, um Matthes in sein Zimmer zu treiben, hatte sich in einsamen Nächten fest in die Decke gewickelt und an nichts zu denken versucht. Manchmal war Lottchen zu ihr gekrochen, und sie hatte sie im Arm gehalten, wie man wohl nur sein jüngstes Kind im Arm halten kann: mit unterschwellig schleichendem Schmerz und dem Wunsch, in dieser Stellung bis zum Sanktnimmerleinstag zu verharren, darauf bedacht, es nicht durch eine unbedachte Bewegung zu wecken. Lottchen hatte sie zuverlässig ablenken können von der Verwirrung, die Maljutka Malysch in ihr ausgelöst hatte, sie hatte ein Tuch um die Nachttischlampe geschlungen und sie in deren gedrosseltem Schein stundenlang, scheint es ihr heute, angeschaut. Langes, braunes Haar, kleine Narbe auf der überaus hohen Stirn, Augen beinahe asiatisch geschlitzt
(Mongolenfürstin
hatte Matthes sie genannt, als er sie zum ersten Mal ansah), Ohren leicht abstehend — sie hatte in ihr stets die hinreißende Kopie ihres Vaters gesehen. An den Tagen hingegen hatte sie zu arbeiten versucht wie immer. Maljutka hatte begonnen, ihr zu mailen, erst vorsichtig, dann offener, freier, und Helene hatte ihre Post sehnsüchtig erwartet. Es ist
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58
Uhr, als der Laptop endlich sein Startprogramm hinter sich hat, sie kann es kaum erwarten und wird fahrig.
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Liebe Helene,
wennste wüßtest, wie sehr ich mir gestern das Kreuz verhoben habe, als ich die Bücher vom Regal auf den Boden packte, um zwei Bretter wieder festzukloppen, würdest Du mit Sicherheit über mich lachen. Sowieso lachst Du über mich, nicht? Wie soll eine auch nicht über die andere lachen, die den Bauch nicht flach kriegt und die Füße nicht kurz, und die immer aussieht, als wären Pat und Patachon übereingekommen, es in einem Körper zu versuchen … Wer es wirklich in meinem Körper versucht, weeßsch doch dabei selbst nich so jenau. ’S wird der Deibel sein, der seine weibliche Hälfte was vonne Welt sehen lassen will. Meenste nich auch? (Kann man das eigentlich Humor nennen?)
Die weibliche Hälfte vom Deibel läßt ehmt ihre Brüstchen nur halb rausgucken ausm Kerl, der nich von seiner Gestalt lassen kann …
Ich habe mir also das Kreuz verhoben und plötzlich gewußt, daß ich der Chorgemeinschaft nicht mehr vorstehen kann, als Chorleiterin nicht und als Vorstandsmitglied noch weniger. Darauf hast Du mich gebracht, wahrscheinlich schon in Sanssouci, als Du mich gleich nach dem Kennenlernen wieder verabschiedetest. Die Erleichterung stellte sich mit dem Verfliegen der Schmerzen auch postwendend ein. Sie können nicht
fühlen
, daß ich eine Frau bin. Die Sänger hören meine Stimme und sind immer aufs Neue irritiert, auch wenn sie es sich nicht anmerken lassen wollen. Als Mann haben sie mich seinerzeit akzeptiert, aber das war doch nicht ich, der ihnen da gegenüberstand! Und jetzt, da ich ich bin — bin ich ich? — , bin ich in ihrem Fühlen eben nicht ich, wobei ich in ihrem Denken wahrscheinlich an die richtige Stelle gerückt werde, und das geht nicht zusammen. Auch Dein Gefühl kriegte mich innen und außen wie in Sinn und Form oder Gehalt und Gestalt nicht zusammen, und da ich Dich besser kennenlernte, als ich damals ahnte, weiß ich, daß Du nichts anderes tatest, als Deinen Gefühlen freien Lauf zu lassen, und mir nicht etwa ein Bein stelltest, um zu beobachten, wie ich nach dem Fall aussehen würde. Als mir der Schmerz in den Rücken schoß, war es, als wollte man mir von oben zurufen, daß Frauen eben nur dann Bretter annageln sollten, wenn wirklich kein Mann greifbar ist. Eine Dirigentin in Rock oder Kleid überm feinbestrumpften Männerbein, mit männlicher Stimme und breiten Schultern, ist nichts für das gängige Rollenverständnis, von dem sich ja doch niemand lösen kann, so frei er sich auch wähnt. Und weil das so ist, finde ich keinen Platz in der Arbeitswelt der ostdeutschen Provinz, aus drei Firmen bin ich schon gegangen worden, hinauskomplimentiert, halb geworfen, halb gesprungen, eine ABM konnte man mir nicht» anpassen«. So sollte ich einmal für einen Verein, der sich sexuell mißbrauchter Mädchen annimmt, die Sekretariatsaufgaben übernehmen, auch telefonische Erstkontakte. Durch die Blume sagte man mir, daß meine Stimme die Mädchen verunsichere, weil sie eben von Männern gepeinigt wurden … Ich konnte sogar mitgehen, das ist es ja! Den Weibern dort war das ungeheuer peinlich, sie schenkten mir zur Absage des vom Arbeitsamtes vermittelten Jobangebotes sogar eine Schachtel Belgische Meeresfrüchte, nun ja, ich hasse Süßes, das paßte.
Warum schreibe ich Dir das? Keene Ahnung. Eigentlich wollte ich mich nur bei Dir für das Wochenende bedanken, es war schön, Dich in Deiner Familie zu erleben, und daß die uns alle Zeit der Welt gelassen hat zum Quatschen, rechne ich Deinem Mann hoch an. Grüß’ ihn mal von mir.
Herzlich — Viola Malysch
Noch immer summt der Videotext. Es ist
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06
Uhr, sie hat
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Minuten gebraucht, um die Mail zu lesen, und nun unternimmt sie eine Fahrt ins Blaue und hofft, das Wochenende zu finden, von dem Viola sprach.
Helene hat Pläne. Jemand hat die für sie aufgestellt. Sie hängen über ihrem Kopfende und sagen an, was zu tun ist. In dieser Woche: physiotherapeutisches Turnen in Einzelbehandlung, ein Schwimmversuch, Ergotherapie im Keller, Massage, Logopädie, psychologische Einzelkonsultationen, progressive Muskelentspannung, eine Konsultation des Sozialdienstes, Psychogruppe.