Ihr wird schlecht.
Elektromyografisches Biofeedback ist noch nicht einmal dabei. Matthes hatte ihr einen Prospekt dazu in die
stroke unit
mitgebracht, ganz hibbelig war sie geworden von der Vorstellung, damit die Bewegung des rechten Armes zu trainieren. Dass das in ihrem Fall nicht gehe, hatte ihr gestern schon die Ärztin mitgeteilt, die die Erstuntersuchung vorgenommen hat: Mit Schrittmacher verbiete sich das. Ein bisschen wütend war sie schon gewesen, zumal ihr Interferenzen zwischen Feedback und Schrittmacher nicht zwangsläufig erscheinen. Keiner hier hat sie bislang nach dem Typ ihres Schrittmachers gefragt. Das müsste man aber doch wissen, um sagen zu können, ob sich Biofeedback tatsächlich verbiete. Leider war sie zu aufgeregt gewesen, um das deutlich sagen zu können.
Sie kann sich nicht vorstellen, solch ein Programm durchzuhalten. Rein in den Rollstuhl, raus aus dem Rollstuhl … Die Schwester muss es angebracht haben, als sie noch nicht ganz munter gewesen war. Wie soll das gehen?
Helene wurde angezogen, sitzt jetzt im Eckchen und wartet darauf, zum Frühstück abgeholt zu werden. Klein und zusammengerutscht kommt sie sich vor, als die Tür aufgeht und eine mächtige Person, die ihr noch unbekannt ist, sie abholt. Die Person sagt nichts, nicht einmal Guten Morgen, sieht an ihr vorbei oder über sie hinweg und bringt sie wortlos ins Frühstückszimmer. Da sind sie wieder, die Hilfsmitteclass="underline" das Nagelbrett für die Brötchen, die Tasse mit beidseitigem Henkel, die merkwürdig geformten Besteckteile, die Lätze und Sitzkissen. Ein duldsames Mädchen ist sie, sagt sie sich. Lässt es über sich ergehen, dass man ihr ungefragt Kaffee eingießt und ein Brötchen aufschneidet. Wozu haben sie dann diese Sachen hier, wenn man sowieso nicht selbst tun und entscheiden kann? Jetzt schmiert ihr die Frau auch noch Marmelade auf die obere Hälfte, die sie am liebsten mit Leberwurst gegessen hätte. Leberwurst liegt in appetitlichen Scheiben ja immerhin auch auf einer der reichlich bestückten Frühstücksplatten … Alter Osten, muss sie denken. So war es auch gewesen, als sie in den diversen Geburtskliniken gelegen und deren System über sich hatte ergehen lassen. Am schlimmsten schiebt sich die Frauenklinik, in der Billy geboren wurde, in die Erinnerung: Nur alle vier Stunden wurden die Kinder kurz zum Stillen gebracht und blieben ansonsten, ob sie schrien oder nicht, im Säuglingszimmer, zu dem die Mütter keinen Zutritt hatten. Wenn jemand kam, ein Vater zum Beispiel (aber zu ihr kam ja kein Vater), so musste er Glück haben, wenn ihm eine Schwester sein Kind durch eine Glasscheibe zeigte. Und was die Mahlzeiten betraf, so hatte man damals nur die Wahl, zu essen oder nicht zu essen.
Ein Rest an Aufbegehren erstirbt in einem hörbaren Seufzer. Sie beißt ins Brötchen, trinkt langsam den Kaffee aus.
Blutdruckmessen.
Wiegen.
Täglich aufs Neue.
Zu den Behandlungen wird sie geholt und gebracht. Die Physiotherapeutin ist eine zugewandte Person. Die Psychologin wirkt seltsam dümmlich. Lustlos wickelt sie ein Pflichtprogramm mit Helene ab, setzt sie vor den einen, den anderen Bildschirm, wo sie puzzeln soll, Muster zusammensetzen, Zahlen und Begriffe ergänzen. Sie ist geschafft, als sie zum Mittagessen geholt wird, und bittet um ausreichende Mittagsruhe.
Die Schwester grient.
Während sie schlief, muss Matthes gekommen sein.
Matthes ist ein Jahr älter als vorgestern. Man sieht das, findet sie. Seine Augenlider wirken wieder geschwollen, was hat er nur? Heute fragt sie ihn.
Sag mal, was ist denn mit deinen Augen los?
Er ist müde, legt seinen Kopf in ihren Schoß. Sie streichelt ihn.
Er sagt nichts.
Sie sagt nichts mehr.
Dabei bleibt es. Während des Besuches fällt kein Wort.
Matthes holt ein Steinchen aus der Tasche und drückt es Helene in die Hand. Irritiert ist sie nur Augenblicke, dann gibt sie es ihm zurück. Ihr Blick zittert. Er nimmt es, lächelt einen Moment, wird ernst, nimmt Helenes rechte Hand, öffnet sie gegen den leichten Spasmus und legt das Steinchen wieder zurück. So geht das einige Male. Eins teilt dem anderen so viel mit, wie das Steinchen zu fassen vermag. Eins weiß nicht wirklich, was das andere ihm mitteilen will, aber jedes hat dem Steinchen aufgepackt, was ihm am drückendsten schien, und nun sind sie im Schweigen erleichtert. So leicht ist ihnen zumute, dass Matthes eine Weile seinen Pullover auszieht und Helene wie auf Wolkenwatte in ihren Kissen liegt, schwebt, keinen Druck spürt, weder von Matratze noch Decke.
Als Matthes gegangen ist, weiß sie für den Moment nicht, ob er tatsächlich da war.
Nach dem Abendessen endlich Zeit.
Auf ihr Bitten hin hat Matthes ihren Taschenkalender des vergangenen Jahres mitgebracht. Sie hatte ihm erklären müssen, wo er ihn finden konnte. Zwar hatte sich Matthes noch nie von sich aus an ihren persönlichen Dingen zu schaffen gemacht, dennoch war es ihr wie eine Auslieferung erschienen. Dabei hätte er, da das Zeug in der dritten Schublade von oben, in der zweiten Säule unter ihrem Schreibbrett, lag, ohnehin jederzeit Zugang dazu, wenn er nur wollte …
Da steht es: Sechzehnter bis achtzehnter November — Viola Malysch, die Tage waren mit einer blauen Tintenklammer verbunden. Am Freitag hatte Helene laut Kalender noch das Auto zur Werkstatt gebracht. Jetzt erinnert sie sich, dass sie es entgegen den anfänglichen Beteuerungen der Werkstatt nicht am Nachmittag zurückerhalten und zu Fuß zum S-Bahnhof hatte laufen müssen. Sie war ein bisschen zu spät gekommen, hatte noch Lottchen vom Kindergarten abgeholt. Irgendwie waren sie nach dem Potsdamer Treffen übereingekommen, es in anderer, abgeschirmter Umgebung noch einmal zu versuchen. Helene hatte sich bemüht, einen Ort in Violas Nähe ausfindig zu machen, hatte erklärt, sie würde sie auch zu Hause aufsuchen,
natürlich!
, aber Viola hatte nur betreten nach unten geschaut, als mochte sie keine Besucher. Auf die Einladung nach Karlshorst war sie nach einigem Zögern, das Helene für eine Ausflucht gehalten hatte, eingegangen. Als sie am sechzehnten November aus der S-Bahn stieg, blieb sie neben Helene stehen. Die aber lief vorbei: Sie hatte sie nicht erkannt. Das vor ein oder zwei Wochen noch graue, schmucklose Haar war frisch getönt, geschnitten und in Wellen gelegt und wurde am Hinterkopf von einer Muranoglasspange gehalten. Make-up und gezupfte, gefärbte Brauen hatten dem Gesicht eine gewisse Starre gegeben. Viola trug ein dickes, schwarzes Kostüm, das maßgeschneidert worden sein musste, denn in diesen Proportionen war so etwas von der Stange sicher nicht zu bekommen, und einen bunten Paschminaschal um den Hals. Die Füße steckten in schwarzen Stiefeletten, deren Sohlen so geschickt in einen verkürzten, angeschnittenen Absatz überführt worden waren, dass man die Größe zunächst nicht wahrnahm. Überm rechten Arm lag eine hellgraue leichte Webpelzjacke, und mit der linken Hand stützte sie sich auf den Griff eines edlen Lederköfferchens zum Ziehen. Helene lief vorbei. Als Viola sie beim Namen rief, drehte sie sich erschrocken um. Sah, wie Stolz und Enttäuschung darum rangen, in Violas Mienenspiel den Sieg davonzutragen. Sah in ein Gesicht, dessen befremdendes Ebenmaß eben aufzubrechen begann, um den Mund herum, wo die dicke Schicht erste Risse bekam. Helene schreckte zurück im Inbegriff des Umarmens, es war eine Sache von Sekundenbruchteilen, sich zu überlegen, dass Violas Make-up womöglich weiter verschlieren würde, wenn sie sich zu nahe kämen. So blieb es beim Händeschütteln, wie es auch vier Wochen später beim Händeschütteln bleiben sollte, als Viola dabei war, zu Maljutka Malysch zu werden in Helenes Kopf.