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Helene griff das Köfferchen und trug es die Bahnhofstreppe hinunter. Lottchen sah die große, fremde Person verstohlen, mit distanziert wirkendem Interesse an, während sie an Helenes Hand hinabturnte. Man sah, welche Register in ihrem Kopf gezogen wurden, Stimme, Figur und Aufmachung in Übereinstimmung zu bringen. Unten angekommen, war das wahrscheinlich vollbracht, denn Lottchen reichte nun Viola unbefangen die Hand, sie zu begrüßen.

Helene kaufte frisches Brot in der Bäckerei, ehe sie den Weg in die Arberstraße nahmen. Das Viertel zeigte noch vereinzelt Spuren der

Russenzeit

, die seit 1994 vorbei war.

Klein-Moskau

hatte man Karlshorst früher genannt. Ganz in der Nähe war das Kapitulationsmuseum, und manche der Villen, in denen höhergestellte Offiziere mit ihren Familien gewohnt hatten, zeigten tatsächlich noch vernagelte Türen und Fensterfronten. Vielleicht hatte man die Erben noch nicht ausfindig machen können, oder aber ganze Gemeinschaften von ihnen konnten sich nicht darüber einigen, wie mit dem womöglich unerwarteten Besitz zu verfahren sei. Es waren weniger geworden in den letzten Jahren.

Matthes und Helene hatten auf Teilungsland gebaut. Der Besitzer des Hauses an der Straßenfront hätte nicht die Mittel gehabt, es in einen wieder bewohnbaren Zustand zu überführen, wenn er sich nicht entschlossen hätte, die hinter dem Haus gelegene Hälfte des Grundstückes zu verkaufen. Nun hatten beide Parteien nur noch wenig Garten, aber das war Helene sogar lieb. Gartenarbeit lag ihr nicht.

Als sie das Gartentor öffneten, kam ihnen Lissy auf ihrem Fahrrad entgegen. Lissy wohnte seit Kurzem in einer eigenen Wohnung, die sie sich von ihrem Lehrlingsgeld leisten konnte. Bekifft sah sie aus, wie so oft in letzter Zeit. Helene schloss das nicht nur aus der Erweiterung ihrer Pupillen: Die Augen waren rot und tränten, sie aß mehr als gewöhnlich. Wenn sie sich freudig an Helenes Brust warf, um sie zu begrüßen, wusste sie, was die Stunde geschlagen hatte. Lissy warf sich nicht nur an ihre, sondern auch an Violas Brust, die verdattert zwischen Rad und Tor klemmte. Helene seufzte nur, vertagte die Auseinandersetzung. Drinnen dann rief sie Matthes aus dem Arbeitszimmer, um ihm Viola vorzustellen. Der kam eilig und leise summend die Treppe herunter und lief sofort zum Herd, wo er einen heißen Wirsingauflauf aus der Röhre nahm. Sie setzten sich an den Tisch, Mareile kam hinzu, sie hatte das Schulschwimmen hinter sich, und aßen. Tranken Wein. Es war Freitag, niemand musste am nächsten Tag früh raus, und so verlief sich der Abend in unaufgeregter Weise: Matthes ging zurück in sein Arbeitszimmer, Mareile übte Gitarre, was sie ausgesprochen gern tat, und Lottchen sah sich ein Video an, das ihr die Großeltern geschickt hatten. Helene blieb mit Viola in der Küche allein.

Viola schaffte es nicht, an diesem Abend die Etikette abzulegen, sie blieb der verwandelte Vamp, dessen Lippenstift stündlich nachgezogen werden musste, und erst als sie viele Gläser Wein getrunken hatte, sodass die häufiger nötigen Gänge zur Toilette sie Anstoß nehmen ließen an Tisch und Bank und Stuhl und Schrank, verzog sich die Wimperntusche in dunkle Augenringe, kam sie mit über die Lippenkontur hinausschießendem Mundrot zurück, sah es so aus, als begänne das Make-up geradezu von ihren hohen Wangenknochen abzubröckeln.

Helene verspürte den Impuls, ihr Babyöl und zur Nachbehandlung Waschlappen und Handtuch zu reichen, unterließ das aber wohlweislich. Das, worüber sie tatsächlich sprachen, bewegte sich haarscharf an dem vorbei, worüber sie hatten sprechen wollen. Viola erzählte von der Gewichtszunahme, die ihr seit einigen Jahren zu schaffen mache, unterließ es aber, über die gleichzeitigen hormonellen Umstellprozesse in ihrem Körper zu sprechen, die vor der Operation begonnen hatten und danach natürlich beibehalten werden mussten. Sie sprach von den Cremes, die sie benutzte, die Rosazea zu bändigen, aber nicht davon, wie die wahrscheinlich täglich nötige Rasur die Haut zusätzlich beanspruchte. Sie redete davon, wie sie versuchte, ihr Brot freiberuflich mit dem Aufschreiben der Geschichten alter Leutchen zu verdienen, die ihre Biografien gern als gebundenes Buch ihren Kindern und Kindeskindern schenkten und sich das sogar etwas kosten ließen. Über die Irritationen der Anrufer und Anruferinnen beim ersten Kontakt sagte sie kein Wort, ebenso wenig ließ sie darüber verlauten, wie vieler potenzieller Kunden sie wieder verlustig ging nach einem solchen Erstgespräch. Erst, als sie auf Zurückliegendes zu sprechen kamen, auf Studium, Armeezeit und, ja, auch auf die Ehe, sagte Viola laut und deutlich

ich

, als sei sie sich ihrer selbst in der Gegenwart keinesfalls sicher.

Nachdem sie als Viktor Malysch anderthalb Jahre Grundwehrdienst abgeleistet hatte, war sie Lehrerin für Deutsch und Musik geworden. Gearbeitet als solche hatte sie aber nie, sondern dem Studium ein Forschungsstudium aufgepappt, das sie zum Dr. phil. befördert und die Universitätskarriere nahegelegt hatte. In die Zeit der Dissertation war eine Frau eingefallen, die sehr schnell ihre war: Sie fühlte sich verpflichtet, sie zu heiraten, als sie von ihrer Schwangerschaft erfuhr. Die Zwillinge waren

1983

zur Welt gekommen. Da endlich liebte sie ihre Frau, die nicht ahnte, dass der Vater ihrer Söhne ebenfalls eine Frau war. Eigentlich hätten sie schöne Jahre gehabt, sagte sie, so schön, dass sie mit dem

Outcoming

dem Ganzen die Krone hatte aufsetzen wollen. Sie hatten zwei Kinder, das war der Traum vieler Lesbenpaare, die sie kannte. Ja, dieses Traumleben hätte sie endlich führen wollen! Dass ihre Frau keine Lesbe war, musste sie irgendwie ausgeblendet, nicht mehr zugelassen haben, meinte sie. Der Schock wäre beidseitig gewesen: Ihre Frau hätte ihre Verkleidung zunächst für einen Scherz gehalten, der im Zusammenhang mit der Bartabnahme stehen musste. Als Viola aber das Tuch vom Kopf genommen und sie die Glatze erblickt hätte, sei sie regelrecht zusammengebrochen und hätte im Beisein der fast zehnjährigen Söhne einen Schreikrampf erlitten. In diesem Moment wäre es Viola

wie Schuppen aus den Haaren

gefallen: Ihre Frau liebte Bart und Schwanz und Waschbrettbauch und Bizepsaufgang, all das, was ihr so unerträglich war, dass sie nun alles daran setzen wollte, es loszuwerden, und die Unvereinbarkeit ihrer beider Viola-Vorstellungen musste sie beide an den Rand des Abgrunds gebracht haben, der ihre Ehe fortan war. Sie hatte ja nicht einfach aufhören können, ihre Frau zu lieben. Viele Male noch hätten sie miteinander geschlafen, weil sie es sich gewünscht und geglaubt hatte, Viola umstimmen, ummodeln, auf den rechten Weg zurückbringen zu können.

Aus der Traum, an der Mann

hätte Viola diese Akte bei sich genannt. Aber sie sei sich immer fremder geworden dabei und habe schließlich keinen mehr hochgekriegt. Es blieb bei

aus der Traum

Der Mann verschwand. Ihre Frau, sagte Viola, hätte es noch drei Jahre lang mit ihr versucht und allen guten Willen der Welt gezeigt. Als die Zwangsscheidung anstand, weil Viola die Operation mit Personenstandsänderung anstrebte, hätte sie oft geweint, weil es ihr so unvorstellbar erschienen wäre, auf diese Art den Mann loszuwerden, aber hätte Viola darauf verzichtet und nur den Namen geändert, so wäre ja nichts gewonnen gewesen. Ihr Fühlen hätte keine Kraft mehr gehabt, noch länger Anzug zu tragen.

Helene erinnert sich, während der langen Ansprache zum Ort ihrer ersten Begegnung zurückgekehrt zu sein: Viola war, nun ja, geschlechtsindifferent gekleidet gewesen, die männliche Erscheinung war erst auf den zweiten Blick mit der Knötchenfrisur aneinandergeraten, und das auch nur für einen Moment. Sie fragte sich, was sie zu diesem regelrechten Gestaltwandel veranlasst hatte.

Als sie schachmatt einschläft, sitzt die Brille noch auf ihrer Nase.