Als sie erfrischt aufwacht, sitzt die Brille nicht mehr auf ihrer Nase. Zerdrückt hat sie die, ein Glas ist aus der Fassung gesprungen, ein Bügel abgebrochen, der andere verdreht. Zuerst möchte sie wütend werden, dann aber besinnt sie sich.
Heute ist auch noch ein Tag.
Heute nimmt sie sich aber zusammen und schafft es, sich frische Sachen aus dem Schrank zu nehmen. Sie schafft es, sich die blöden Thrombosestrümpfe von den Beinen zu ziehen. Sie schafft es, ins Bad zu fahren und sich unter die Dusche zu setzen. Sie schafft es, die Seife wieder aufzuheben, als sie ihr zwei-, dreimal aus der Hand rutscht. Sie schafft es, sich gründlich zu waschen, abzutrocknen und schließlich die Zähne zu putzen. Sie schafft es, sich einfache Socken über die Füße zu streifen, den Slip anzuziehen. Den BH legt sie so zurecht, dass sie die eine Verschlussseite mit der linken Hand von hinten unter den rechten Arm klemmen kann, der zu solch grobem Festhalten in der Lage ist. Dann führt sie die andere Verschlussseite von links nach vorn, zieht und lässt sie dabei nicht los, bis sie auch die unter dem rechten Arm klemmende Seite erreicht hat. Sie schafft es, wirklich! die Häkchen in die Ösen zu schieben, wenigstens zwei von drei, und dann den BH ein halbes Mal um den Körper zu ziehen, sie schafft es, den rechten Arm in die Trägeröffnung zu bugsieren, und sie schafft es, auch mit dem linken unter den Träger zu schlüpfen. Sie schafft es. Geschafft ist sie, als sie es schließlich noch schafft, das T-Shirt über den Kopf, die Hose über den Hintern zu ziehen. Matthes hat ihr weiße Sportschuhe mit Klettverschluss mitgebracht. Sie schafft es …
Als die Schwester zum Wecken kommt, sitzt sie über ein Kreuzworträtsel gebeugt im Sessel am Tisch.
Mit der linken Hand schreibt es sich aber sehr ungewohnt.
Als sie von der Physiotherapie zurückkommt, schiebt sie die Schwester vor das Ärztezimmer.
Na, warten Sie mal, Sie kommen gleich dran.
Also wartet sie. In der Tat kommt die Ärztin einen Moment später nach ihr sehen, ruft sie herein, sie kommt ihr nicht zu Hilfe, sodass sie allein im Rollstuhl fährt.
Ein Lehrerinnenblick, denkt Helene.
Eine Lehrerinnenstimme beginnt, von den guten Erfolgen zu sprechen, die Helene vorzuweisen habe. Sie könne sich alleine anziehen. Dann könne sie natürlich auch alleine essen, oder? Sie könne sich allein waschen und allein im Rollstuhl fahren, kurz, sie sei nichts für diese Station, in der man das alles nicht können darf.
So?
Helene bekommt auf der Stelle Panik, aus der Rehaklinik geworfen zu werden. Als die Ärztin ihre Aufregung bemerkt, lacht sie und legt den Arm auf Helenes Oberschenkel. Es gibt das Haus
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für die besser beweglichen Patienten, die überwiegend allein zurechtkommen. Dorthin wird sie verlegt.
Sie beruhigt sich.
Es könne aber nicht garantiert werden, dass sie dort auch ein Einzelzimmer bekommt, sagt die Lehrerinnenstimme.
Sie bekommt ein Einzelzimmer. Glück gehabt.
Glück gehabt? Matthes kann das nicht glauben. Es wäre doch angenehmer, jemanden zum Reden zu haben, zum Austausch!
Zum Reden …
Sie wischt beiseite, wovon Matthes da anfängt.
Sie fragt ihn, ob er sich gut an Viola erinnern könne.
Gut erinnern …
Matthes wischt beiseite, wovon sie da anfängt.
Ratlos sehen sie für einen Moment aneinander vorbei.
Sie sieht, dass Matthes nicht nur schweigt, sondern
ver
schweigt.
Es wäre doch angenehmer, jemanden zum Reden zu haben!
Schließlich ist sie es, die den Weg zum See vorschlägt. Dort war sie noch nicht. Matthes geht natürlich darauf ein, geradezu beflissen packt er zwei Gläser, die er mitgebracht hat, in seinen Rucksack zurück. Weintrauben wäscht er ab, hat sie vermutlich auf dem langen Weg hierher irgendwo erstanden. Auch sie verschwinden im Rucksack. Sie fährt voraus, wartet am Fahrstuhl, hält ihn an. Wo bleibt er denn?
Er kommt schon.
Er stolpert über seine eigenen Füße, findet sie. Sie fahren nach unten. Der Weg aus dem Haus führt durch die Cafeteria. Helene ist nicht nach Eis, aber Matthes hat schon zwei Tütchen gekauft, Limone Buttermilch, ihr Lieblingseis. Na gut, aber sie kann nur eines, entweder Rollstuhlfahren oder Eisessen! Matthes greift den Rollstuhl und schiebt ihn weiter, sie fährt mit der Zunge über das köstliche Eis. Nun ist ihr doch danach. Der Appetit kommt eben beim Essen. Überrascht zieht sie Matthes am Ärmel, als sie eine Rotkappe sieht, die sich aus märkischem Sand ans Licht bohrt. Gleichzeitig ist sie verärgert, dass bei jedweder Aufregung die Fähigkeit zu sprechen erst einmal versagt. Selbst wenn sie einen einfachen Pilz im Unterholz sieht. Sie schließt die Augen. Auf dem Gipfelpunkt der Anspannung legt Matthes seine Hand auf ihre Schulter. Langsam verebbt der Druck, sie merkt, wie sich Arm und Hand aus dem Spasmus lösen und schlaff auf der Stuhllehne ruhen. Matthes schneidet den Pilz mit dem Schweizer Taschenmesser, das er einfach immer dabeihat, aus der Erde, lässt dabei ein kleines Stielstück im Boden. Immer macht er das so. Sie glaubt zu wissen, dass es besser wäre, den Pilz ganz herauszudrehen. Schonender, weil man ihm nicht eine solch große Schnittwunde zumutet, besser für den Esser, weil gerade bei dickfleischigen Pilzen, wie es die Rotkappe ja ist, ein schönes Stück Fleisch im Boden bleibt. Da kann man nichts machen, Helene unterlässt es, ihm das sagen zu wollen. Er hat es auch in den Jahren zuvor nicht gehört. Sie denkt darüber nach, was man in der Beziehungskiste überhaupt hört. Was hört sie von ihm und was nicht, und scheppert der Kistenverschluss womöglich so laut, dass sie einander zubrüllen könnten, was sie wollten? Die Rotkappe im Schoß, geht es weiter nach unten. In Serpentinen hat man hier einen rollstuhlgeeigneten Weg angelegt. Am See dann eine Feuerstelle, eine überdachte Sitzgruppe und um alles herum ein steinerner Bankkreis. Matthes setzt sich, sie steht ihm gegenüber, dreht dann aber den Stuhl, dass sie, seinen Blick im Rücken, aufs Wasser hinausschauen kann. Es war ein Sommer ohne große Gelegenheit zum Baden, jedenfalls war ab Anfang Juli Schluss damit gewesen, und ob sie im Juni noch schwimmen war, daran kann sie sich nicht erinnern. Von hinten gerät jetzt eine Weintraube in ihr Blickfeld. Matthes lässt sie vor ihren Augen baumeln. Was will er sie denn immer wieder füttern! Sie fährt ein Stück beiseite, demonstrativ das Limoneneis erhoben wie eine Brandfackel.
Stille.
Niemand außer ihnen ist hier unten.
Ein Düsenjäger am Himmel malt einen Kondensstreifen. Langsam und ruhig sieht das aus.
Es ist so still, dass sie überlegen muss, wie Bedrohung klingen könnte.
Sie fragt sich, was Matthes verschwieg. Sie spricht nicht differenziert genug, um ihm beizukommen, denkt sie. Matthes ist klug. Matthes verdreht ihr die Sätze im Mund. Sie weiß es noch. Es gelang ihm nicht immer, aber oft. In dem Zustand, in dem sie sich jetzt befindet, würde er sie ohne Zweifel unterbuttern. Aussichtslos also, ihn auf irgendeine Weise zur Rede stellen zu wollen. Ohnehin lässt er sich nicht
anbohren
, wie er es nennt, wenn sie ihn nach etwas fragt, womit er gerade nicht beschäftigt ist, sodass es ihn einige Überlegung — vor allem Zeit? — kostet, umzuschwenken.
Wie ist es mit den Bügeln? Drücken sie?
Helene ist mit Matthes zum Optiker gerollt, zum einzigen, den es in Heidemühlen gibt, um sich eine neue Brille anpassen zu lassen. Der Optiker hat einen Spiegel wie einen dreiflügligen Altar. Darin kann sie sich von der Seite sehen. Was sieht sie? Der Haarwuchs auf der linken Seite ist noch spärlich, vielleicht einen knappen Zentimeter lang. Er ist völlig grau. Silbern stehen die Borsten zu beiden Seiten der Narbe vom Kopf ab. Sie dreht den Kopf: Auf der anderen Seite glänzt es kastanienbraun. Sie stellt sich vor, wie es aussähe, wären die Haare wieder gleich lang: links grau, rechts braun, der Gedanke beginnt ihr zu gefallen. Sie dreht einige Mal den Kopf.