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Na wie denn nun, drücken sie?

Nein, sie drücken nicht.

Welche Brille sie nimmt, ist ihr völlig egal. Matthes hingegen versucht, ihr die Vor- und Nachteile der verschiedenen Modelle zu erläutern. Sie versteht Bahnhof. Will Bahnhof verstehen. Ob nun mit überstreckbaren, unkaputtbaren Bügeln oder aber aus Plastik — sie will nur sehen können damit. Sie will die Welt anschauen. Die Welt wird sie doch sowieso nicht mehr anschauen! Sie ist bereit, sich damit abzufinden, sagt sie, wenn Matthes sich damit abfände, dass sie die Wahl eines passenden Gestells gerne ihm überließe. Das sind nun aber Ölworte im Feuer. Da muss der Matthes jetzt aber korrekterweise heftig protestieren, und das tut er.

Sie sei wohl verrückt! Sie sei eine schöne Frau, nach der sich nicht nur die Männer umdrehen!

Was hat er da gesagt? Weiß er überhaupt, was er da gesagt hat? Matthes tut jetzt so, als habe er überhaupt nichts gesagt. Sie zweifelt. Forscht dem Nachhall in ihren Ohren nach. Wird unsicher.

… nach der sich die Männer umdrehen!

Das wären zwei Worte weniger, vielleicht hat sie zwei Worte mehr gehört, als er gesagt hat, sie sieht ihm forschend ins Gesicht, aber er lächelt nur unverfänglich. Ihre Unsicherheit macht, dass sie zu zittern beginnt, er nimmt die Brille, die sie gerade aufprobiert hat — Metallgestell, hellblau, halbrundes Glas —, aus ihrer Hand und hält sie beruhigend fest, aber sie hasst das in diesem Moment. Ein Blick in die Gesichter der Umstehenden, des Optikers und zweier nachfolgender Kunden, zeigt keine Zeichen von Verunsicherung an über das, was Matthes da eben gesagt hat, sie wird sich verhört haben, ja, sie hat sich einfach verhört. Nun will sie aber doch schnell hier raus, sie stimmt dem hellblauen Metallgestell zu, das Matthes für das drittschönste hält, und reicht ihren Brillenpass über den Tisch, in dem die Werte der Gläser vermerkt sind. Nein, eine Neuvermessung ihrer Sehkraft möchte sie jetzt auf keinen Fall vornehmen lassen.

Heilfroh ist sie, als sie ein Stückchen Tüte mit dem Abholdatum und ihrem Namen in der Hand hält und Matthes mit ihr den Laden verlässt.

Wo bleibt eigentlich Lottchen, wenn Matthes kommt? In Heidemühlen war Lottchen noch nicht, das wundert sie. Wahrscheinlich hat Matthes seine Eltern gebeten, nachmittags vorbeizuschauen und nach Lottchen zu sehen. Mareile hat einfach zu viel um die Ohren (Chor, Orchester, Schülertheater, kein Sport, zu ihrem Leidwesen), und Lissy ist unzuverlässig. Auch Billy wohnt in Karlshorst, aber nach einem Schuljahr in Dänemark zog es ihn zu seiner Freundin. Sie wohnen auf der anderen Seite der Treskowallee, vielleicht zwei Kilometer entfernt. Wenn Helene an Billy denkt, geht ihr das Herz auf.Jetzt denkt sie an Billy.Ihr Herz geht auf.Um den Kohl fett zu machen, klopft es.Herein? Billy.Ist denn das die Möglichkeit? Gerade habe ich an dich gedacht! Es ist eine Freude, ihn zu sehen. Braun gebrannt, langbeinig. Natürlich hat er alle Schönheit von seinem Vater. Wenn er nach der Mutter käme, täte er ihr ein bisschen leid.Mit feinspürigem Blick, der immer ein Stückchen unter die Haut schlüpft, umarmt er Helene. Er packt eine Puppe aus, ein kleines, ebenso langbeiniges Geschöpf wie Billy selbst, und setzt sie seiner Mutter auf den Schoß. Die Sorgenpuppe. Selbst genäht hat er die, mit Helenes alter Maschine, die auf dem Dachboden ein unbeachtetes Dasein fristete. Jetzt aber offensichtlich nicht mehr, denn Billy dreht sich: Sieh mich an, ich habe mich neu eingekleidet! Helene erkennt die Stoffe ausgemusterter Sachen, von denen sie gedacht hätte, dass sie im Container gelandet wären: Ihr alter Wendewickelrock, die eine Seite schwarz mit Streublümchen, die andere schwarz mit weißen Pünktchen, hat für ein ganzes Oberhemd und eine Schiebermütze gereicht! Dem hell- und dunkelblau karierten Blazer, schlimmes Stück, sind von schwarzem Sweatstoff der Kragen und Teile der vorderen Blenden abgejagt worden, er ist eindeutig vermännlicht worden. Verrückt, der Junge kann wirklich alles anziehen und alles durcheinander, und es wird immer gut aussehen.Billy erzählt, dass er wieder zu Hause eingezogen sei. Es sei doch nicht einfach für alle im Moment, und auch Bengt überlege, ein Urlaubssemester zu nehmen und nach Berlin zu kommen, um einspringen zu können.Nun ist ihr klar, wo Lottchen bleibt.So gerührt ist Helene, dass sie wieder einmal gar nichts sagen kann.

Das Essen gibt es jetzt natürlich im großen Speisesaal. Helene hat einen Platz zugewiesen bekommen. Ein Nagelbrett, eine zweigriffige Tasse. Die kann sie gar nicht gebrauchen, denn sie kriegt die rechte Hand sowieso keinen Zentimeter hoch. Was soll’s. Helene sitzt ganz allein an diesem Vierertisch. Das findet sie seltsam, denn alle anderen Tische sind mit mindestens zwei, meist aber vier Personen besetzt. Vielleicht ist die Tischbesatzung entlassen worden vor Kurzem?Sie holt sich Abendessen. Der Teller steht vor ihr auf dem Schoß, es ist gut, einen Rollstuhl zu haben. Wenn sie den nicht hätte, wäre es schwierig, immer den Teller aufs kalte Büfett zu stellen, während die linke Hand auflegt. Sie fährt aber zweimal, weil sie auch Quarkspeise möchte. Als sie zurückkommt, erwartet sie eine Überraschung: Sie hat ein Gegenüber am Tisch. Kennt sie den nicht? Sie überlegt hin, überlegt her. Es dauert, bis es ihr einfällt: der Schadhafte aus der Unfallklinik! Seine Augen dämmern nicht mehr unter der fehlenden Kalottenhälfte, sondern schauen Helene an.Füllen sich mit Tränen.Na, prost Mahlzeit.Wenn sie es recht bedenkt, ist er aber auch geschlagen. Ein Arm, ein Bein. Ob man ihm tatsächlich den Fuß verkehrt herum ans Knie genäht hat, kann sie jetzt nicht überprüfen. Er bemüht sich, sein Brot zu schmieren. Helene verspürt den Impuls, ihm helfen zu wollen. Gerade noch rechtzeitig fällt ihr ein, dass sie das auch nicht besser kann als er. Schön, dass er nicht mehr dämmert, denkt sie. Aber ihm scheint das nicht zu gefallen … Wahrscheinlich ist es noch gar nicht lange her, dass ihm sein Zustand zu Bewusstsein gekommen ist. Eine Träne tropft auf den Leberkäse, läuft unter der Petersilie hindurch und fällt in die Krümel auf dem Teller. Seine Hand zittert wie sein Mund. Sie kann doch jetzt nicht herumfahren um den Tisch und ihm ihre Hand auf den Arm legen, wo kein Arm ist! Auf den Kopf geht auch nicht, sie sieht es pulsieren und fürchtet sich. Um die Schulter ginge. Aber was würde ein um so vieles jüngerer Mann denken, wenn eine um so vieles ältere Frau, die Haare halb grau und halb braun, ihn einfach umarmte … Sie würden womöglich beide flennen und nichts weiter sagen und den lieben Gott einen weniger guten Mann sein lassen, und die verhagelte Petersilie würde den Weg in seinen Mund vermutlich nicht mehr finden.Nein, diese Vorstellung gefällt ihr nicht.Auf einmal hat sie keinen Appetit mehr.Sie lässt alles stehen und liegen und flieht.

Am liebsten flieht sie zu Viola, aber ihr Gedächtnis hakt. Nach dem Freitagabend im November vergangenen Jahres ist Schluss, dabei müsste es doch noch einen ganzen Samstag und mindestens einen halben Sonntag gegeben haben!Sie fährt zur Fangopackung mit anschließender Massage. Die Masseurin hilft ihr, den BH zu öffnen. Das ist nett. In der kleinen Kabine lässt sie sich den Heilschlamm auf Rücken und Schultern packen und ruht. Einer der männlichen Masseure, der blinde, stellt leise eine eigentlich überschäumende Musik ein, was ist das? Vivaldi, Donizetti? Sie versucht, mit dem Körper auf der Liege ein Stück höher zu krauchen, weil sie hofft, beim Zur-Seite-Schieben des Vorhanges mehr hören zu können. Vorsichtig blickt sie den Gang nach links, dann nach rechts. Erschrocken fährt sie zurück: Die Masseurin massiert den Masseur, sehr vorsichtig, küsst ihn, ganz züchtig sieht das aus, wie sie ihm mit den Händen die Rückenmuskulatur lockert, durch Kittel und Hemd hindurch, vor ihm stehend und mit geschlossenen Augen … Schnell kriecht Helene zurück, grient, freut sich ein bisschen.Es ist Vivaldi.Es ist sogar DER Vivaldi, Le quattro stagioni, Die vier Jahreszeiten, aber es muss eine ungewöhnliche Adaptation für Holzbläser sein. Dieser Vivaldi ist einfach nicht totzukriegen. Vor ein paar Jahren war sie in der Chiesa della Pietá gewesen,»Vivaldis Kirche «in Venedig, sie erinnert sich sehr genau. Als sie den Fremdenführer gefragt hatte, was davon denn zu Vivaldis Zeiten schon gestanden habe, denn die Kirche war erst nach Vivaldis Tod fertiggestellt worden, hatte der nur unwirsch gebrummt und war darüber hinweggegangen. Sie lächelt.Warum erinnert sie sich so zögerlich an Violas Besuch im letzten Jahr?Sie schließt die Augen, gerät ans Einschlummern, als ein Hieb durch die Ruhe fährt. Die Masseurin hat den Plastikvorhang beiseitegerissen. Helene muss schon wieder grienen, denn der Dutt der Masseurin ist verrutscht. Helene weiß, warum. Die Masseurin hingegen weiß davon offensichtlich nichts. Sie nimmt die Packung ab und hilft ihr in den Rollstuhl. Im Massageraum wird sie auf einen Massagestuhl gehievt, auf dem sie alle fünfe gerade sein lassen kann. Schöner Zustand. Danach noch Infrarot-Bestrahlung. Als die Lampe ausgestellt wird, ist ihr für den Moment so kalt, dass sie eine Gänsehaut bekommt. Schade, dass sie zu unbeholfen ist, sich schnell anzuziehen. Sie fragt sich, was in vorgewärmten Muskeln passiert, die plötzlicher Kälte ausgesetzt werden, sieht sie sich zusammenziehen, um deren Eindringen abzuwehren, und spürt der eigenen Reaktion nach. Ist nicht der Nacken schon wieder dabei, völlig zu verhärten? So, wie ihn die Masseurin vor jeder Massage beschreibt: brettharter Muskelpanzer, den sie nur schwer geschmeidig bekommt. Als sie endlich das Oberteil ebenjenes Jogginganzuges, den ihr Matthes zu seinem Geburtstag schenkte, wieder übergezogen hat, ist sie froh, ruckelt sich zurecht, um zum Fahrstuhl zu fahren, und grinst der Masseurin verschwörerisch zu, was diese aber offenbar nicht deuten kann, denn Helene bekommt nur ein beiläufiges Kopfnicken zurück. Dabei rutschen der Masseurin die Haare völlig aus dem Dutt, dass sie es endlich bemerkt und sofort versucht, dem entstandenen Dilemma beizukommen. Dabei senkt sie das Gesicht, verharrt sekundenlang in dieser Haltung, während die erhobenen Hände an der Frisur nesteln. In diesem Augenblick schießt die Erinnerung ein, wie Viola sich kämmte, sie tat es in ähnlicher Haltung, als sie die Haare in die Muranoglasspange zwang, und sie tat es am Samstagmorgen vor fast einem Jahr, als Helene die Badezimmertür aufriss, um schnell auf die Toilette zu kommen. Viola hatte vergessen abzusperren und starrte erschrocken zur Tür, und ebenso erschrocken sah Helene, Lottchens Bettnestwärme entsprungen, auf Viola, die im gestreiften Chenille-Pullover, oben herum fertig angezogen, aber noch ohne Slip oder Rock, vor dem Spiegel stand. Helenes Herz schlug zum Halse heraus, sodass sie heftig schlucken musste, um es dazu zu bewegen, im Körper zu bleiben. Instinktiv zog sie die Tür wieder zu und lief, so leise sie konnte, zur anderen Toilette unters Dach.Warum rollen Sie denn nicht weiter? Sie versperren ja den Weg!