Der Herbst will wirklich kommen. Der Wald zum See hinunter ist ein Mischwald, die Laubbäume beginnen, sich mit bunten Farben zu übertreffen. Eine Blutbuche steht auf dem Weg zum Hang an exponierter Stelle, ringsherum wurde rasiert und Rasen angesät. Mit einer Gesichtsfeldeinschränkung, muss Helene jetzt denken, hätte sie bestimmt den Eindruck eines englischen Parks — selbst Gesichtsfeldeinschränkungen können ihre Vorteile haben. Um die Buche herum hat man eine Bank gezimmert. Aus Buchenholz? Nein, das sieht nach diesem neumodischen Bangkirai aus, dem Mahagoni-Ersatz für den Außenbereich. Ein Weg führt hin, und um den Rasen zu schonen, ist auch ein breiter Kreis um die Bank herum gepflastert worden. Helene fährt heran und traut sich, nach dem Feststellen der Rollstuhlräder allein auf die Bank überzuwechseln. Sie steht einige Male auf, setzt sich wieder. Zur Übung. Eine Frau mit hängendem linken Augenlid und einer großen, noch frisch aussehenden Narbe auf der entgegengesetzten Schädelseite setzt sich daneben.Na? Na so was, wie antwortet man darauf?Na, na! kommt es unversehens aus Helenes Mund.Die Frau erschrickt und läuft davon, Helene möchte noch aufstehen und ihr nachrufen, aber sie kennt sie ja gar nicht … Es tut ihr leid, sie verschreckt zu haben. Kann man nichts machen. Sie nimmt die Decke aus dem Rollstuhlnetz, die sie mitgebracht hat, und wickelt sich recht und schlecht darin ein. Viola und sie hatten auch Decken mitgenommen, als sie im vorigen Jahr in der Novemberkälte, aber bei ausnehmend schönem, klarem Wetter nach Krummensee hinausgefahren waren. Sie hatten versucht, unbefangen zu tun, um jedweden Gedanken an die morgendliche Begegnung während des Frühstücks unnötig zu machen. Gegickelt und gescherzt hatten sie, die sehr weichen, heißen Eier gelöffelt, dazu das aufgetoastete Brot gegessen, das sie am Freitagabend in der Bäckerei gekauft hatten. Die eine hatte Kaffee, die andere schwarzen Tee getrunken. Unverfänglich hatte Helene dann gefragt, was Matthes denn mit Lottchen zu unternehmen gedenke, während sie mit ihrer neuen Freundin ins brandenburgische Land hinausfahren wollte. Matthes hatte nur einen Augenblick gestutzt, dann aber zu Lottchen hinübergeschaut und etwas von Vormittagsvorstellung im Kino gemurmelt: Ob sie sie dorthin mitnehmen könnten auf ihrer Tour? Natürlich. Sie hatten die beiden ausgekippt und waren weitergefahren, über Marzahn und Hellersdorf nach Altlandsberg, dann nach Krummensee hinüber. Dort gab es verwunschene Wasserlandschaften am Ortsrand, luftwurzelnde Bäume im Sumpf, sehr allein waren sie hier draußen gewesen und hatten durch die kahlen Kronen in den Himmel gesehen, der mittagsblau von Wölkchen verwöhnt wurde, die sehr weich sein mussten. In Decken gewickelt, hatten sie auf einem dicken, umgestürzten Stamm gesessen. Natürlich hatten sie es vermieden, auf die morgendliche Begegnung einzugehen. Das Make-up in Violas Gesicht war sparsamer aufgetragen worden, keine Gefahr des Einreißens. Die Augenbrauen hatte sie nicht geschminkt, und die Lippen waren mit einem ins Braun hinübertönenden Stift bei ihrer Kontur belassen, nicht überzogen worden. Heute trug sie keinen Rock, sondern Hosen, das Webpelzjäckchen stand ihr. Sie hätte die gestrige Kriegsbemalung zur Selbstverteidigung gebraucht, sagte sie.Helene schminkte sich nie.Wie es war, das Frausein überzeichnen zu müssen, um überhaupt als Frau gesehen zu werden, wagte sie sich nicht vorzustellen. Ganz leise aber rumorte schon damals die Frage in ihr, wie es mit dem Recht auf körperliche Unversehrtheit aussah, wenn man sliplos wie Viola aussah und das womöglich nie gewollt hatte.
Die Frau ist wieder da. Das hängende Augenlid lässt sie schläfrig aussehen. Helene freut sich eigentlich, dass sie zurückgekommen ist.Na? fragt nun Helene.Na, na! antwortet die andere drohend und lacht.Mehr sagt sie aber nicht. Sie sitzt auf der Bank, schaut lächelnd um sich und schaukelt den Oberkörper vor und zurück.Helene denkt an Stimmungsaufheller.Woran mag die Frau denken?In den Himmel schaut sie, zum Wald, auf ihre Füße, die Hände hat sie beim Schaukeln unter den Hintern geklemmt. Ihr Anorak ist so orange, dass Helene nicht lange hinsehen kann. Die Augen schmerzen.Schon lange hier? Die Frau schüttelt den Kopf.Da kommt eine Schwester von der geschlossenen Station, auf der Helene vorher gewesen war, und gibt sich außer sich: Habe ich Sie endlich gefunden! Sie sollen doch nicht immer abhauen! Ach, Sie sind mir eine … Mit einem Seufzen, das Mütterlichkeit vortäuschen soll, nimmt sie die Frau am Ärmel und streichelt ihr angstverzerrtes Gesicht. Widerstrebend geht sie mit, die andere hält sie immer schön an der Angel und redet weiter auf sie ein.Helene seufzt auch. Mütterlichkeit muss sie Gott sei Dank nicht vortäuschen, auf einmal ist sie froh, keine Beziehung zum hängenden Augenlid zu haben. Aber Helene hat eine Beziehung zu Mareile, die sie den Weg zu sich heraufkommen sieht, sie ist froh, dass sie ihr von Weitem winkt und dabei lacht und nicht mehr die heulende Sommermareile geben muss. Helene winkt zurück. Mareile rennt die letzten Meter und fällt ihr um den Hals. Helene freut sich über ihre große, schlaksige Tochter. Die sagt, dass auch Lissy hier sei, sie müsse nur noch was besorgen, und da sieht sie auch Lissy kommen. Ihre Tischlerlehre hat Ende August wieder begonnen. Unwillkürlich schaut Helene auf Lissys Hände: beide noch dran, in der rechten hält sie drei Eis, es sind drei der Sorte Buttermilch Limone. Wenn das keine Demonstration des Einvernehmens ist! Sie möchte wieder in den Rollstuhl zurück und sich von den Töchtern an den See fahren lassen, richtig erschrocken sind die beiden, als sie aufsteht und sich hineingleiten lässt. Übermütig dreht Lissy den Stuhl vor Freude, dass Helene sie beinahe ein bisschen mäßigen möchte, und schon sind sie auf dem Weg. Mareile erzählt, wie immer, vom Essen, das Matthes ihnen offenbar unverdrossen zaubert, er kocht fantastisch mexikanisch, und fragt nach dem in der Anstalt. Oller Hungerhaken. Lissy schiebt den Stuhl und grinst über ihre Schwester. Figürlich kommt Lissy nach Matthes, ist also rank und schlank, während Mareiles Beinform ganz der ihren ähnelt und ihre Konstitution andauernder Wandlung fähig ist: Von der dünnen Wiener mutiert sie innerhalb weniger Monate zur dicken Bockwurst, lässt es sich aber nicht nehmen, in ebenso kurzer Zeit wieder in den Wienerzustand zurückzukehren, wenn auch jedes Mal ein etwas längeres Würstchen aus ihr wird. Im Moment ist sie eins. Ein sehr langes. Länger sogar als Lissy. Das Eis hat sie als Erste weg.Nein, über das Essen hier möchte Helene nicht reden.Stattdessen sprechen sie über Lissys Lehre. Mit drei Tagen Schule und zwei Tagen Praxis macht sie die Wahrscheinlichkeit, dass Lissy ihre Hände behält, um ein Fünftel größer als jene, dass sie sie verliert. Natürlich weiß Helene, dass die Rechnung nicht stimmt, aber das braucht ja Lissy nicht zu wissen. Sie wünscht ihr Glück, laut und im Geheimen. Es ist ja immerhin ein glücklicher Nachmittag, denkt sie, den sie da haben.Als die Mädchen sich verabschieden, haben sie zusammen Früchtetee getrunken, den sie in der Patientenküche aufgebrüht hat.Sie winkt und sieht die beiden im Fahrstuhl verschwinden.Nicht verschwunden aus ihren Gedanken ist Viola, von der sie hier nichts hat als eine Erinnerung, die sich bedeckt, versteckt hält, bis irgendein sporadisch auftauchender Lichtstrahl sie dazu veranlassen kann, sich stückweis zu zeigen … An jenem Samstag jedenfalls war sie mit Viola in der Dorfkneipe von Krummensee eingekehrt, sie hatten nebeneinander an einem Vierertisch gesessen. Jetzt sieht sie sogar die blau-weiß karierte Mitteldecke, darauf ein Sträußchen Plastikblumen und eine Menage für Essig und Öl, Pfeffer und Salz. Ein Bier hatte Viola bestellt, Helene war nach einem Glas Wein, aber das mochte sie wegen des Autofahrens nicht riskieren. Sie brauchten etwas zum Kichern, um einander ihre Unsicherheit nicht eingestehen zu müssen. Viola zog einen Hefter voller Filmkritiken aus der Tasche, die sie in den letzten Jahren für ein Magazin verfasst hatte, und begann vorzulesen. Brad Pitt, hört Helene heute noch, Violas männliche Stimme hatte sie dazu verleitet, die Augen zu schließen, spielt den Bergbesteiger Heinrich Harrer ohne Tiefen und Untiefen … Sie lachten los über den Satz, Viola konnte es nicht lassen zu bemerken, dass die Ambiguität des Wortes Untiefe sie dazu verleitet hätte, es zu verwenden und abzuwarten, ob sich der Redakteur daran stieße, aber dem war Untiefe als Januswort nicht geläufig gewesen, er hatte es einfach als Gegenteil von Tiefe gelesen. Oder aber überhaupt nicht, hatte Helene gemeint.Sie lachten.Sie sammelten Janusworte.Viola: aufheben. Helene: umfahren. Viola: fix. Helene: übersehen. Viola: Kriegsgegner. Helene: Na, so was fällt aber auch nur dir ein … Plötzlich wird ihr heiß.Sie befindet sich nicht im Krieg mit Matthes.Wenn aber doch?Ist sie Kriegsgegnerin im einen oder im anderen Sinne?