Mit solchem Januswort im lädierten Hirnkasten lässt es sich schwerlich einschlafen, verkeilt hat es sich zwischen Violas Besuchssamstag und — sonntag. Es will ihr nicht aus dem Kopf, dass sie sich womöglich im Kriegszustand befand mit Matthes, als das Aneurysma platzte. Dass es ihm passte, dass es platzte. Sie abhängig machte. Sofort schämt sie sich dieses Gedankens, aber Matthes ist so anhänglich … Erfüllt ihr Wünsche, ohne dass sie sie ausgesprochen hätte. Bringt so viel Unverzagtheit mit bei seinen Besuchen, dass sie ihm sowieso ewig dankbar sein muss. Ohne ihn hätte niemand daran gedacht, sie in die stroke unit einzuweisen, obwohl es auf der Hand gelegen hatte, dass sie dort am besten aufgehoben war, und die Rehaklinik hätte Wochen später auf der Agenda gestanden. Sie ist ihm tatsächlich, verdammt noch mal, dankbar. Dankbar wie in den ganz frühen Jahren, als sie sich sicher gewesen war, dass er der einzig Richtige für sie war. Ihre depressiven Großzackenattacken waren immerhin schwerwiegend genug gewesen, sie einmal sogar in die Psychiatrie einweisen zu lassen, aber Matthes hatte darüber nur gelacht und gesagt, dass er sie dort nie besuchen würde. So erschrocken war sie darüber gewesen, dass sie heimlich, still und leise die Überweisungspapiere in den Müll geworfen hatte und einfach nicht hingegangen war. Von da an hatten sich die Depressionen in der Periode verlängert, in der Amplitude hingegen merklich abgenommen, waren schließlich nur noch als moderate Ausschläge auf der Stimmungsskala spürbar. Zum Beispiel eben im Herbst, wenn Matthes in sein Arbeitszimmer zog. Er, der Verbindlichkeit zwar ersehnte, aber immer den Eindruck erwecken musste, in Bindungen hineingerutscht, dazu verdonnert worden zu sein, hatte sich auch in ihren einfühlenden Hang zur Selbstlosigkeit verliebt, in dem er sich sicher fühlen konnte, während sie davon fasziniert gewesen war, was er sich traute: Er war er selbst, schaute sich nicht andauernd um, was die Leute von seinen Aktionen halten mochten, war ziemlich frei von Schuldgefühlen, die ihr das Leben vergällt hatten. Es war eine glückliche Fügung gewesen, die sie zueinander geführt hatte, und im Ausbalancieren ihrer persönlichen Eigenheiten entwickelten sie so etwas wie richtiges Können. Das findet sie noch heute. Sie wurde freier und selbstbewusster, er zeigte Gefühle. Sie wagte mehr, er hielt ihr den Rücken frei. Und so weiter. Und so fort. Dennoch hatte die glückliche Fügung sie nicht davor bewahren können, einen anderen Menschen mit Ziehen im Bauch zu verfolgen.Zu verfolgen … War Maljutka Malysch abgetaucht vor ihr? Hatte sie sich gar in Sicherheit bringen müssen?Sie schreibt eine kleine, unverfängliche Mail, mischt sie unter andere unverfängliche Mails, speichert sie auf Diskette und wird Matthes bitten, sie abzuschicken.
Heute muss sie dem Schadhaften bei der Physiotherapie zusehen, denn er wird in der großen Halle gleich auf der Matte neben ihrer beturnt. Sie bekommt Schmerzen. Sie staunt über das Maß der Einfühlung, das sie so nicht erwartet hätte. Seinen linken Fuß hat man nicht verkehrt herum ans Knie genäht. Sie erinnert sich, einen Film gesehen zu haben über ein Mädchen, das an Knochenkrebs erkrankt war. Bei ihr hatte die Therapieplanung so ausgesehen, dass die Beweglichkeit des verkehrt herum angenähten Fußes zu trainieren war, um später eine Prothese anzupassen, bei der die Ferse als Kniegelenk fungieren sollte. So etwas war sicher bei lange geplanten Operationen erfolgversprechend. Wenn sie den Schadhaften aber ansah, so musste der einen Unfall erlitten haben, denn er war auf einer Körperseite schwer verstümmelt worden. Bei solchen Unfällen war es sicher kaum möglich, ein Körperteil auf die Schnelle passgenau durch ein anderes zu ersetzen, noch dazu war es unwahrscheinlich, dass der betreffende Fuß so weit erhalten geblieben war, dass man es hätte versuchen können. Er trägt verschraubte Apparaturen mit einem großen Rad in den Knochen des lädierten Beines, das etwa fünfzehn Zentimeter unterhalb des Kniegelenkes amputiert wurde. Vermutlich, überlegt Helene, will man damit eine Dehnung, ein Knochenwachstum erreichen. Der Schmerz nimmt zu, ist auf der ganzen rechten Seite zu spüren, die sich zunehmend spastisch verzieht. Sie lässt willkürlich los, Arm und Bein fallen wieder flach auf die Matte, auf der sie liegt.Gut, dass Sie das steuern können! Helene liegt auf dem Rücken und soll versuchen, den rechten Arm irgendwie nach oben zu bringen. Als Hilfsmittel reicht die Therapeutin ihr schließlich eine kurze Stange, die sie mit der linken Hand greift, von der rechten umklammern lässt und sie anhebt. Die Physiotherapeutin fasst rechts zu, mit vereinten Kräften wird die klammernde Hand nach oben gezogen. Der Schadhafte weint inzwischen, Helene vermutet, dass er Schmerzen hat, denn sein Gesicht ist kläglich verzogen. Er soll beide Beine von Boden abheben, der Armstumpf drückt fest auf die Unterlage, seltsam sieht das aus. Der Therapeut scheint nachzugeben, legt dem Mann den Arm um die Schulter, hat aber wohl einen neuen Anschlag vor: Laufübungen. Mühsam wird er aufgerichtet. An einer Krücke, die auch hier natürlich nicht Krücken heißen, sondern Gehhilfen, am Armstumpf von seinem Therapeuten festgehalten, soll er einbeinig Schritte machen, er gerät jetzt richtig ins Heulen, will nicht mehr, wäre einfach hingefallen, wenn ihn niemand gehalten hätte. Schließlich lässt er sich wohl überreden, sich in einem Laufgerät festschnallen zu lassen, aus dem er nicht herausfallen kann. Das Laufband beginnt langsam, seine Schrittfrequenz ist niedrig, aber wenigstens trocknen seine Tränen.Helene hat Mühe gehabt, währenddessen die Therapeutin nicht zu sehr spüren zu lassen, wie abwesend sie ist.