nich wahr? und sie waren davongestapft, Helene mit ihren schweren braunen Schuhen, Viola in den schwarzen Stiefelettchen.Als Helene sich noch einmal umdrehte, sah sie die Bedienung der Kneipe mit der Küchenkraft am Fenster stehen und grinsend gestikulieren.Es wurden beim besten Willen nicht drei Stunden, die sie in Krummensee verbrachten. Dafür war es zu sehr November. Irgendwann beschloss Helene, sie wenigstens nach Altlandsberg zu fahren, das war nur zwei Kilometer entfernt, und dorthin führte eine kaum befahrene Straße. Sie könnten das Auto abstellen und was Richtiges essen gehen, dann erledigte sich das Alkoholproblem von selbst. Schließlich landeten sie beim Italiener, Treppe abwärts, Kellergewölbe. Viola steuerte zielsicher auf einen Tisch zu, der in der hintersten Nische stand. Sie setzte sich mit dem Rücken zur Ecke, rechts und links hinter sich Wand. War es das, was sie sicher machte? Helene glaubte das, denn Viola geriet ohne ein weiteres Bier langsam in Gefilde, die sie bislang verschwiegen hatte. Ihr Gesicht gewann Farbe, die Lippen wurden voller, wölbten sich schließlich ganz losgelassen von jeglicher anspannenden Haltung so locker nach vorn, dass das Sprechen ihr ein wenig schwerfallen musste, wie Helene dachte. In der Tat sprach sie langsam, aber ohne Stocken. Der Tag, an dem sie sich endgültig entschieden hätte, die Operation vornehmen zu lassen, sei der gewesen, an dem ihre Frau es aufgegeben hatte, mit ihr schlafen zu wollen. Eine stille Art von Übereinkunft hätte sie gewittert, es anders zu versuchen, sie hätten sich, Rücken an Bauch, aneinandergeschmiegt, sie hätte den schlaffen Schwanz nach hinten zwischen die Beine gestopft und gewartet, und ihre Frau sei auf einmal mit einer anderen Art von Erregung auf sie zugekommen, hätte sie gedacht, einer, die ihr Frausein anerkennen wollte, sie hätte den Schwanz nicht angerührt und schließlich auf ihr gelegen, dass sie weinen mussten, vor Freude, hätte sie gedacht, und da sei der Entschluss unumstößlich geworden. Was dann kam, war das übliche Prozedere. Helene erinnert sich, einen Augenblick die Luft angehalten zu haben — was sollte an diesem Prozedere üblich sein! — , bis ihr, natürlich, aufging, dass Viola nicht allein dastand, obwohl sie, Helene, sie bislang angestaunt hatte wie einen dreibeinigen Kometen, der mitten unter ihnen niedergegangen war. Ein Sonderfall, eine exzeptionelle Singularität! Aber das stimmt nicht, sie hatte nur keine Augen für sie, bis sie eine von ihnen kennenlernte, keine Antenne, bis eine von ihnen sehr deutlich zu ihr herüberfunkte, und das, um sie auf normale Weise einfach kennenzulernen, als normale Frau, als die sie sich fühlte, die sie aber nicht war. Als die sie sich nicht fühlte, die sie aber war? Als die sie sich nicht fühlte, die sie auch nicht war? Als die sie sich fühlte und die sie tatsächlich war?(Helene wird schwindlig, sie kann das nicht denken, zum Beispiel hat sie mit Verneinungen aller Art, insbesondere doppelten, extreme Schwierigkeiten, seit sie zurückgekehrt ist zu den Lebenden. Aber sie spürt, dass all die Sätze stimmen könnten, je nachdem, wo man steht und sie ausspricht. Gespür geht über Verstand, ein eigenartiger Zustand …)Das übliche Prozedere …Sie durfte nicht verheiratet, musste dauernd fortpflanzungsunfähig sein. Eine Operation,»geschlechtsangleichend «genannt, sollte sie nach außen hin aufs Frausein einschwören. Helene erschien das als ein Sammelsurium von Zumutungen, die binäre Auffassung von Geschlecht zu zementieren. Ihr ging die Vorstellung von Bipolarität durch den Kopf, die Geschlechterverhältnisse treffender abbildete: Was sich zwischen den Polen» männlich «und» weiblich «tummelte, war nicht irgendwo außerhalb der Skala angesiedelt, sondern bewegte sich als Mensch an seiner besonderen Stelle, die er für sich fand. Ihr erschien das so logisch, dass sie sich wunderte, es nicht als allgemeinen Konsens vorzufinden in der Gesellschaft. Wenn jemand sich dem anderen Geschlecht zugehörig fühlte als jenem, in der sein Körper geboren worden war, dann war es seine Sache, das anzugleichen, auch operativ, oder einen anderen Weg in seinem Kopf zu finden, wie damit umzugehen war. Auf keinen Fall aber durfte man doch von ihm einen solch schwerwiegenden Eingriff verlangen, wie das Gesetz es tat! Was, wenn etwaige Komplikationen ihm das Leben schwer oder gar unmöglich machten? Natürlich hatte Viola die Operation gewollt, wie sie auch das Frausein gewollt hatte. Dennoch: Helene hatte sie kennengelernt als eher geschlechtsindifferente Person, nicht besonders gepflegt, keinesfalls weiblich aufgedonnert. An jenem Abend beim Italiener erzählte sie, wie viele Stunden sie in den ersten Jahren nach der Operation für die tägliche Körperpflege, das Ankleiden, die Zurechtmacherei gebraucht hatte. Zwei Epilationen hätte die Kasse bezahlt, dann aber, als der Bart immer wieder nachwuchs, hätte sie keine neuen Anträge mehr gestellt, weil sie es leid gewesen wäre, so viel Zeit damit zu verbringen. Überhaupt hätte sich mit den Jahren die Freude an Kleidern und Röcken sehr gedämpft, auch, weil sie einfach kein Geld mehr gehabt hätte, sich welche zu kaufen. Ihr Körper hätte sich verändert, wäre fülliger geworden, sie aber wäre aus ihren Anstellungen geflogen und oft auf Sozialhilfe angewiesen gewesen. Sie hätte es schleifen lassen, wie sie es auch als geborene Frau hätte schleifen lassen mit der Zeit. Dann eben billige Hosen, die wenigstens passten, statt in einem Übergrößengeschäft nach teuren Frauenklamotten zu suchen. Dann eben den olivgrünen Uraltparka, statt sich ein schickes Mäntelchen beim Maßschneider anfertigen zu lassen. Zum Friseur wäre sie gar nicht mehr gegangen, hätte das Haar einfach wachsen lassen und den Pony von Zeit zu Zeit selbst gestutzt, und für Schuhe hätte sie ein Versandhaus gefunden, das preisgünstig Unisex-Modelle anbot. Da die Zahl ihrer Freunde sich drastisch reduziert hätte (wobei sie zugab, auf vieles überempfindlich und verschroben reagiert zu haben, was unter den Normen, in denen die abendländische Gesellschaft nun mal existierte, eigentlich normale Reaktionen auf ihren offiziellen Geschlechtswechsel gewesen wären) und sie keiner durch feste Zeiten geregelten Lohnarbeit mehr nachzugehen gehabt hätte, wäre es einfach nicht mehr nötig gewesen, sich jeden Morgen zu rasieren — sie hätte es nur noch getan, wenn sie das Haus verlassen musste. Allein ihre Hormontherapie hätte sie aufrechterhalten, auch wenn sie inzwischen bezweifelte, was die ihr brachte: Ihre Brüstchen hätten sich nur zu flachen Spiegeleiern entwickelt, und ihre Stimme sei männlich geblieben. Sie sah sich, sagte sie, inzwischen als Frau, die trotz Operation in einem männlich gestimmten Körper lebte, und der Zwiespalt, der ihr Leben früher so entsetzlich zermarterte, hätte sich teilweise geschlossen, sei einem Sichfügen gewichen, das manchmal auch etwas wie Bedauern darüber aufkommen ließ, sich der Operation unterzogen und dem Männerkörper, der nun einmal ihrer gewesen war, so viel Unnatürliches zugemutet zu haben. Sie ging nicht so weit, den Schritt zu bedauern als einen sehr entscheidenden in die falsche Richtung, oder weil sie besser als Mann weitergelebt hätte, aber mit dem Wissen um das tatsächliche Ergebnis ihrer Geschlechtsangleichung lebte es sich offenbar nicht so leicht, wie der Gesetzgeber es gern gesehen hätte. Inzwischen, sagte sie, könnte sie sich sogar vorstellen, mit einer Frau, die sie als Frau akzeptierte, noch Kinder gezeugt zu haben — warum denn nicht? Wäre das nicht etwas, was sie anderen Lesben voraushätte? Aber sie hätte damals die dauernde Fortpflanzungsunfähigkeit auf sich genommen, weil sie es nicht besser gewusst hätte in dieser Situation. Und, das war natürlich nicht zu vernachlässigen, weil sie von ihren beiden Söhnen zum Zeitpunkt der Scheidung bereits so zwangsgetrennt gewesen wäre, dass sie sich nicht hätte vorstellen können, das noch einmal zu ertragen. Ihre Frau hätte vom Zeitpunkt des Scheidungsantrages an, den Viola eingereicht hatte, alle Gemeinsamkeit aufgekündigt. (Sie war regelrecht zurückgeschnippt in einen Zustand der totalen Frustration, in dem sie — dachte Helene, nicht aber Viola — das Verschwinden ihres Mannes in eine bis ins Körperliche reichende Zumutung umdefinierte und ihm eine Art Suizid unterstellte, mit dem er sie auf sehr berechnende Art und Weise alleingelassen hatte.) Sie wäre wirklich gestorben gewesen für ihre Frau, sagte Viola. Helene fühlte sich bestätigt.Warum hast du dich so aufgedonnert, als du gestern gekommen bist? Viola sagte, nach einer Schweigeminute: Ich wollte den Riss spüren, den das in dir auslöst, und da hineinfallen.