Oh, Helene erinnert sich an das Gefühl, sich im Körper eines anderen Menschen verstecken zu wollen. Sie kennt es von den Gelegenheiten her, da sie ganz klein werden und unter Matthes’ Achsel schlüpfen wollte. Am liebsten hätte sie dort einen Känguru-Beutel gehabt, in den sie einfach hineinrutschen konnte, wann immer ihr danach war, und stets war das verbunden gewesen mit dem Wunsch, dauerhaft unsichtbar zu bleiben. (Sie gießt sich Yogi-Tee ein, den Matthes ihr mitgebracht und den sie in der Küche eine Stunde lang hat kochen lassen, mit Milch und Honig. Die Schwester hat ihn in ihr Zimmer gebracht. Der Chai schmeckt süß, sie lässt ihn an den Mandelresten entlanglaufen, die sie heute deutlich im Rachen spüren kann, wie eine Seitenstrangangina fühlt sich das an. Der Tee bringt für den Moment Linderung.) Aber Matthes hatte kein Schlupfloch für sie, er hatte immer gelacht, wenn sie sich an seiner linken Seite sehr klein gemacht, den Kopf unter seine Achsel geschoben und das rechte Bein bis über seinen Nabel hochgezogen hatte. Irgendwann war ihm dies dann lästig gefallen, er hatte, meist schon im Halbschlaf, sich räuspernd weggedreht und ihr seinen Hintern in die Schoßbeuge geschoben. Dabei war sie es gewesen, die es liebte, von ihm eingepackt zu werden: ihren Hintern also in seiner Schoßbeuge und seine Brust im Rücken und seine Arme fest um ihren Oberkörper gewickelt.Wie lange das her ist?Das ist schon nicht mehr wahr, denkt sie. Und: Das ist schon wahr.
So volle Tage!Helenes Stehversuche sind in Laufversuche umfunktioniert worden, links kann sie sich an einer langen Stange an der Wand festhalten, und rechts wird sie von der Physiotherapeutin gepackt. Zwanzig Schritte. Bei den nächsten zwanzig Schritten, zurück, muss sie aber versuchen, sich mit der rechten Hand an der Stange festzuhalten. Eigentlich ist sie nach vierzig Schritten erschöpft, gleichzeitig aber euphorisiert sie die unvermutete Aussicht, vielleicht eines Tages doch wieder laufen zu können. Schon die Physiotherapeutin in der stroke unit hatte das ja mit beiläufiger Bestimmtheit vorausgesagt, aber natürlich hatte Helene das nicht glauben können. Es fühlt sich noch immer unwirklich an, doch selbst wenn sie stolpert: Sie schafft vierzig Schritte. Da will sie aber auch gleich weitere vierzig anhängen, und noch mal und noch mal. Die Physiotherapeutin lacht, es ist genug für heute, andere Patienten warten. Aber sie wird mit der Stationsleitung sprechen, ob Helene vielleicht nächste Woche schon einen Rollator bekommen kann.Einen Rollator also. Ein Omagerät. Sie war Leuten mit so einem Ding stets ausgewichen, erinnert sich sogar, sich gefragt zu haben, warum sie denn nicht lieber gleich einen Rollstuhl benutzten, das war doch sicherer … Auch sie hat sich mit dem Rollstuhl gutgestellt, die Maße für einen eigens für sie zu fertigenden waren ja schon in der stroke unit abgenommen worden. Sie streichelt über die Räder, schämt sich sofort dafür, sieht sich um. Irgendwie merkt sie, dass solche Aussichten sie durcheinanderbringen. Hirnflattern. Schwer zu verarbeiten. Schlafen will sie, jetzt, sofort, aber es ist Zeit für die Psychologin. Ungern macht sie sich auf den Weg.Schwierigkeiten, Dinge auf vorgelegten Bildern zu benennen, hat sie nicht. Aber dann kommt dieselbe Aufgabe, die ihr auch in der stroke unit vorgelegt worden war. Sie soll schnell die Richtung ändern, in bestimmter Zeit möglichst viele Obst- und Gemüsesorten im Wechsel aufsagen, wobei Sorten mit gleichem Grundwort nicht zählen. Nach wie vor gerät sie arg ins Schlingern. Sie erinnert sich jetzt aber, das früher hervorragend gekonnt zu haben, sie hatten solcherart Tests während des Studiums im Zuge der Arbeit einer älteren Kommilitonin absolviert, die zu Fragen der Kreativität diplomierte. Wenn sie es sich recht überlegt, wird ihre Sprachbeeinträchtigung greifbarer dadurch: Sie kann nicht mehr wie früher durch lange Reihen von Worten, auch Synonymen, flanieren, die an Klammern aufgehängt sind und nur darauf warten, von ihr abgenommen zu werden, sondern muss höllisch suchen, bis sie irgendwo ein passendes entdeckt …Auch die Gedächtnisaufgabe kennt sie: Das Kurzzeitgedächtnis scheint zunächst noch ebenso in Mitleidenschaft gezogen wie vor Wochen, denn sie kann eine nur aus fünf Sätzen bestehende Geschichte nicht einmal im Ansatz nacherzählen. Beim nächsten Versuch klappt das aber sehr gut, und auch als die Geschichten länger werden, kommt sie nach. Gemeinsam mit der Psychologin beschließt sie, das Anfangsversagen auf den Mangel an Umstellfähigkeit zurückzuführen, der aber, wie die Psychologin sagt, nur relativ sei, andere Patienten hätten ungleich höhere Hürden zu überwinden als sie.Na, das wird sie jedem sagen.Als die Dreiviertelstunde vorbei ist, wird Helene von der Schläfrigkeit eingeholt, der sie zuvor noch einmal entwischt war, und will ins Zimmer fahren, sich hinzulegen. Aber schon im Fahrstuhl nickt sie ein, fährt durch bis ganz oben und wird dann von einer mitfahrenden Frau, der das nicht ganz geheuer war, sodass sie nach drei Schritten vom Fahrstuhl weg noch einmal zurückkommt und vorsichtig hineinschaut, geweckt. Kann man helfen? Man kann, aber man braucht nicht. Sie lachen beide, die Frau kennt maßlose Müdigkeit offenbar.Im Zimmer liegt der Laptop auf ihrem Bett. Sie kann sich nicht erinnern, ihn dort liegen gelassen zu haben, aber ihr Gedächtnis ist, wie sie eben gelernt hat, ja störbar. Sie legt sich daneben, umarmt ihn, denn sie fühlt nicht mehr die Kraft, ihn vom Bett auf den Nachttisch zu stemmen.
(Es klopft.)Nicht, dass sie hochschreckte, aber benommen ist sie schon, als sie überrascht feststellt, dass es schon 16 Uhr ist. Sie hat die Progressive Muskelentspannung versäumt (macht nichts, findet sie) und nicht daran gedacht, dass …(Es klopft zum zweiten Mal.)… Carla heute kommt!Natürlich!Jede der Schwestern hätte die Tür aufgerissen, und auch Matthes und die Kinder stünden längst im Zimmer. Das kann nur Carla sein.Komm rein! ruft sie laut, ihre Stimme überschlägt sich, und sie ist verärgert über ihre Langsamkeit, aus dem Bett zu kommen, komm rein! Carla steckt den Kopf zur Tür herein, ein bisschen ängstlich, wie Helene findet.Noch sitzt sie nicht im Rollstuhl, beeilt sich aber, hineinzukommen. Sie hat vergessen, die Räder festzustellen, sodass er davonrollt und sie der Länge nach hinstürzt.Na so was.Sehr erschrocken springt Carla zu ihr, aber sie lacht nur. Sicher hörte sich das schlimmer an, als es war, als ihre fünfundachtzig Kilo zu Boden gingen. Carla hilft ihr. Nicht gerade auf die Sprünge, aber doch so weit, dass sie endlich im Rollstuhl sitzt. Erst mal umarmen. Erst mal die Köpfe aneinanderlegen, Helenes graue Seite an Carlas kastanienbraunes Kurzhaar. Das tut gut. Das ist wie Einschwören auf die Gemeinsamkeit.Als sie sich anschauen, muss Carla heulen.Na so was.Helene ist ein bisschen ratlos, die richtigen Worte wollen ihr nicht einfallen, die man an dieser Stelle sagen sollte. Sie nimmt einfach Carlas Hand. Carla lässt noch einen gewaltigen Schniefer los, dann hat sie sich eingekriegt.Da bist du ja, sagt Helene.Da bin ich, ja! sagt Carla.In diesem Moment wird nun wirklich die Tür aufgerissen, und eine der Schwesternschülerinnen kommt herein, hinter sich ein rollbares Klappbett herziehend.Konversation, plätschernd.Zum Schluss: Klamauk. Die Schülerin hat das Bettzeug verkehrt herum aufgezogen, will das auf der Stelle korrigieren, aber Carla sagt, dass sie das selbst könne. Die Kleine ist noch unsicher, gibt aber unter Carlas beherztem Zugriff schnell auf und geht.Sie setzen sich in die Fensternische. Als Carla jedoch sagt, einen Kaffee nötig zu haben nach der langen Fahrt, machen sie sich auf zur Cafeteria. Sie finden einen Tisch, an dem sie so schnell nicht gestört werden dürften, denn es ist ein kleines Zweierchen am Fenster, noch dazu in der Ecke. Helene fällt augenblicklich Violas Ecktischzugriff beim Altlandsberger Italiener ein, und sofort weiß sie auch, dass ihrer beider Unsicherheit unterschiedlichen Ursprungs ist: Carla weiß nicht, in welcher Verfassung, welchem Zustand Helene wirklich ist. Vielleicht hat sie sogar Angst, eine Freundin verloren zu haben, an einen irreversiblen Defekt? Wer weiß … Und sie selbst ist bedrückt, weil sie Carla nicht von Viola, von Maljutka Malysch, erzählt hat und nicht weiß, ob sie des Zitterns, das sie schon immer befiel, wenn sie von tief innen verborgenen Dingen berichtete, in diesem neuen Zustand noch Herr werden kann. Aus dem empfundenen Vertrauensbruch möchte sie schon auftauchen, sie fühlt sich Carla gegenüber unredlich. Sollte man aber einfach so, jetzt, hier, mit einer eben eingetroffenen, ohnehin unsicheren Carla über Maljutka Malysch reden, oder ist das für sie womöglich ein Zeichen von Hirnkastenfurz? Während sie nachdenkt, läuft Carla zur Thekenluke und stellt sich nach Kaffee an. Bringt auch ein Stück Kuchen für jede mit.Helene möchte keinen Kuchen.Helene möchte einen großen Grappa, damit die Bedenken schwinden, und einen zweiten, der die Zunge löst. Hier gibt es aber keinen Alkohol.Sie seufzt.Sie nippt am Kaffee.Sie rührt den Kuchen nicht an.Warum rührst du denn den Kuchen nicht an? Da fasst sie sich schnell entschlossen ein Herz und erzählt. Von Viola, Maljutka Malysch, und ihrer wahrscheinlichen Liebe, deren Ausgang im Dunkeln liegt. Als sie fertig ist, wagt sie Carla nicht ins Gesicht zu sehen.Du bist ganz die Alte, meint Carla erleichtert.