Heute hat Matthes angerufen, ist nicht selbst gekommen, er wusste, dass Carla auftauchen wird. Helene hatte so etwas wie Sehnsucht nach ihm. Kann aber auch sein, dass es nur die Erinnerung an gemeinsame Zeiten mit Carla war, die sie wehmütig stimmte. Immerhin waren sie zusammen in Masuren gewesen vor sechs Jahren, hatten Ostern vor zwei Jahren eine Wanderung durchs Elbsandsteingebirge gemacht. In Masuren waren noch alle Kinder mit gewesen, bis auf Lottchen natürlich, die es noch nicht gegeben hatte. Auch Carla war mit ihren beiden Töchtern angereist, die jetzt in den Niederlanden studierten, um diplomierte Physiotherapeuten zu werden — ein Studiengang, den es in Deutschland nicht gab. In einem Holzhaus, einsam an einem kleinen See gelegen, hatten sie Quartier bezogen, es gab Boote und einen großen Obst- und Gemüsegarten, der ausdrücklich freigegeben war — sie konnten sich nach Herzenslust bedienen.Weißt du noch …? Natürlich weiß Carla noch.Carla möchte aber noch viel mehr wissen.Immer wieder kommt sie zurück auf Maljutka Malysch. Als könne ihr stetes Nachfragen Helenes Erinnerungsfluss in Gang setzen. Jetzt fragt sie nach Briefwechsel. Helene zuckt mit den Schultern. Mails jedenfalls gibt es nur drei oder vier, im Dezember vergangenen Jahres schon brechen sie ab. Das will Carla selber sehen. Als sie den Laptopstecker in die Steckdose stecken möchte, beugt sich Helene nach vorn, ihr Blick fällt dabei auf das Diskettenfach. Sie hält inne: Natürlich, sie hat den Mailwechsel mit Viola aus ihrem Verzeichnis entfernt und auf Diskette archiviert! Matthes war einmal in ihr Zimmer gekommen, als sie eine Mail von Maljutka Malysch gelesen hatte, hatte sich langsam angeschlichen und sie umarmt, und dabei waren seine Augen, ob sie wollten oder nicht, auf den Bildschirm gerichtet gewesen, dass Helene es mit der Angst zu tun bekommen und schnell die Datei geschlossen hatte. Ob Matthes etwas hatte lesen können, konnte sie nicht sagen, aber ihrer Aufregung erinnert sie sich auf einmal sehr gut, das Herz hatte zum Sprint angesetzt, war auf und davon. Schnell war sie aufgestanden und hatte Matthes ausgiebig geküsst, um ihn vom Bildschirm abzuhalten, auf dem ja aber schon gar nichts mehr zu sehen gewesen war.Der Herzsprint gibt sich noch einmal die Ehre, sie legt die Hand auf die Brust.Carlas fragendem Blick weicht sie nicht aus, sie erzählt sofort, was ihr eben eingefallen ist. Carla möchte schon wieder wissen. Zum Beispiel, wo sie die Archivdiskette deponiert hat. Tja, Fehlanzeige. Sie kann es beim besten Willen nicht mehr sagen. Kann sein, dass sie in der dritten Schublade von oben in der zweiten Säule unter ihrem Schreibbrett im Arbeitszimmer liegt. Dort, wo auch verjährte Taschenkalender und Notizbücher lagern. Aber verbürgen möchte sie sich dafür nicht.Nein, Matthes geht mit Sicherheit nicht an ihre persönlichen Fächer, es sei denn, sie bittet ihn darum.Ja, sie hat die Diskette mit einem roten Filzstiftpunkt gekennzeichnet.Ja, es liegen viele Disketten im Fach.Nein, sie glaubt eigentlich nicht, dass sie dort zu finden sein wird, sie war ihr zu heilig, bestimmt hat sie sie irgendwo in ihrem Wäscheschrank aufbewahrt, wo Mareile oder Lissy, die manchmal auf der Suche nach leeren Disketten waren und dann eben doch einfach an ihre Fächer gingen, nicht nachschauten.Ja, eher glaubt sie das.Da Carla aber nicht in die Verlegenheit kommen wird, ihren häuslichen Wäscheschrank zu durchsuchen, sie wird übermorgen nach Rostock weiterfahren, ihre Freundin Tilda zu besuchen, können sie sich die Diskette abschminken.Abschminken …Helene erzählt von Violas Maskerade am Tag ihrer Ankunft in Berlin. Davon, dass sie am folgenden Tag viel weniger aufgelegt — und am dritten Tag, dem Sonntag, nur noch einen warmen, dunklen Lippenstift verwandt hatte. Ja, jetzt kann Helene sie damit sehen, wie sie ihr zulächelt und ihre Hand hält …Was sie nicht erzählt: Sie waren nach dem Besuch beim Italiener schweigend nach Hause gefahren, Matthes hatte gewartet auf sie und noch eine Flasche Wein entkorkt, aber Viola hatte sich verabschiedet ins Bett, sie sei zu müde, hatte sie gesagt. So hatten sie alleine angestoßen, aber der Abend wollte es, dass sie die ganze Flasche noch geleert hatten, was viel für sie war. Als Matthes sich anschickte, in sein Zimmer hochzusteigen, hatte ihn Helene am Ärmel erwischt und ihm in einem Anflug wilder Wut die Sachen vom Leib gefetzt, dass er gar nicht mehr wusste, wie ihm geschah, aber er hatte mehr und mehr mitgemacht bei dem heftiger werdenden Match. Sie hatten die Tür des gemeinsamen Schlafzimmers sogar verschlossen, nachdem Matthes Lottchen in deren Bett getragen hatte, und waren in hitzigem Aufruhr übereinander hergefallen, dass Matthes vor ungläubiger Freude sie mit immer größer werdenden Augen lange und durchdringend angeschaut hatte. So war es auch verebbt: Sie hatte sich in seinen Pupillen gespiegelt sehen können und etwas wie Glück gefühlt, das weit vom Honigmond entfernt und dennoch süß gewesen war, und als sie am nächsten Morgen erwacht waren, hatten sie beide blaue Münder gehabt.Aber wie ein Vertrauensbruch fühlt sich ihr Schweigen nicht an.Sie lächelt.Wie war sie mit Viola auseinandergegangen? Matthes hatte an jenem Morgen nicht von ihr lassen können und bei jeder Gelegenheit ihre Nähe gesucht, beim gemeinsamen Frühstück hatte er ihr das Ei aufgeschlagen und ihr löffelweise das heiße, weiche Etwas in den Mund geschoben. Er hatte seine Hand auf ihren Arm gelegt und sie wie beiläufig am Schenkel berührt, ihren Bauch gestreift, ihr Haar aus der Stirn gestrichen. Viola hatte am Abend zuvor wahrscheinlich all ihren Mut zusammengenommen, um jenen Satz zu sagen,
ich wollte den Riss spüren, den das in dir auslöst, und da hineinfallen, und die Turtelei muss ihr vorgekommen sein wie eine sehr eindeutige Absage, und wenn auch Helene versucht hatte, Matthes davon abzuhalten, sie so zu hofieren, so wusste sie doch, dass die Nacht ihr Messer gezückt hatte. Das Band zwischen Viola und ihr war erst einmal gekappt. Sie hatte das nicht erklären können, hatte Violas Blicke aufzufangen und in ihre Augen zu lenken versucht, aber Viola war ihr ausgewichen, hatte am Vormittag ihre Sachen gepackt und ihr herzlich für das schöne Wochenende gedankt, an dem sie endlich wieder einmal unter Menschen gewesen sei.Mach’s gut, Helene.