Carla hofiert sie nicht beim Frühstück. Es ist das letzte vor ihrer Abreise. Helene muss sich selber holen, was sie essen will, denn Carla ist vollauf damit beschäftigt, sich Schmäckerchen herauszupicken aus dem übervollen Büfett. Auch sie ist ganz die Alte, denkt Helene. Ihr Grinsen fällt offen aus, größer, als ihr lieb ist. Sogar der Schadhafte guckt fragend, und das will bei seiner allgegenwärtigen Zurückhaltung etwas heißen. Helene aber grinst, und weiter kann sie nichts tun.Carla hat ihr gestern Glück gewünscht und gesagt, dass sie ziemlich beruhigt sei: Helene sei dieselbe Freundin wie eh und je, sogar offener, denn sie hätte sich nicht nach diesem und jenem gestreckt, ehe sie etwas habe gucken lassen von sich. Überrascht war sie gewesen darüber, weil sie sich nicht erinnern konnte, früher auf Rückversicherung aus gewesen zu sein, wenn es um sie selbst gegangen war. Aber wenn Carla das sagte, musste es schon so gewesen sein. Hatte nicht auch Billy bei seinem letzten Besuch gesagt, dass er viel schneller als früher das Gefühl hätte, im direkten Austausch mit seiner Mutter zu stehen? Seltsam. Wenn sich das Gehirn rückwärts zusammensetzt, tut es das vielleicht ohne all die angelernten Mechanismen der Angst, irgendjemand könne ihrer habhaft werden infolge unbedachter Äußerungen. Vielleicht stimmte es ja: Sie braucht zwar lange, bis sie sich zu einem wie auch immer gearteten Sachverhalt einlässt, aber sie tut es, ohne in Schlangenlinien gut und böse abgewandert zu haben. Sie tut es, ohne sich Rechenschaft darüber abgelegt zu haben, wer im Raum ist und wer nicht. Sie tut es, ohne die möglichen Reaktionen auf ihre Einlassungen durchgegangen zu sein. Ja, doch, tatsächlich: Früher hatte sie genau überlegt, wer was entgegnen würde, wenn sie den Mund aufmachte! Und wenn ihr unbekannte Personen im Raum gewesen waren, hatte sie abgewartet, bis diese sich sozusagen enttarnt hatten durch ihre Reden, möglichst dann erst hatte sie vorsichtig zu sprechen begonnen.Du hast ja recht! sagt sie erstaunt, als Carla mit einem Plunderteilchen zurückkommt. Sie sieht sie fragend an, und Helene berichtet, ein bisschen umständlich, was ihr eben durch den Sinn ging.Ach so, sagt Carla, gut, aber ich weiß, dass ich recht habe … Zum ersten Mal, seit sie mit ihm an einem Tisch sitzt, sieht Helene den Schadhaften lächeln, er versteht also, worüber sie sprechen, und bekommt auch Nuancen mit? Das freut sie. Sie hatte neulich seinen Namen entziffert, als sie während der Physiotherapie im Plan nachgeschaut hatte, wer er war: Wojziech Kostrzynski hatte da gestanden. Als er am letzten Sonntag Besuch hatte, war er mit seiner Familie am See gewesen, sie hatte jedenfalls angenommen, dass es sich um seine Familie handelte. Eine Frau, ein Mann und zwei jüngere Brüder, über Ähnlichkeiten lässt sich in diesem Fall ja nur spekulieren, und die Eltern hatten Polnisch zu ihm gesprochen, während die beiden Jungen ein klares, akzentfreies Deutsch bevorzugten. Es hatte kein Gespräch gegeben, er hatte einfach nichts gesagt, wie er auch hier und in anderen Zusammenhängen nichts sagte, sondern nur stumm dreinschaute und sich nichts entgehen ließ. Das schon. Carla öffnet die Handtasche, die sie einfach überall mit hinnehmen muss, und holt eine Stange Konfekt heraus. Auch den Schadhaften lädt sie ein, sich etwas zu nehmen. Tatsächlich greift er, nachdem seine Hand zwei- oder dreimal zurückgezuckt ist, zu. Sie lassen es sich schmecken.Helenes Anerkennung wächst, strahlender Nimbus um Carlas Haupt.
Sie hat Carla mit dem Rollstuhl bis zum Bus gebracht. Abschiedsfahrt, denn als sie zurückkommt, steht der Rollator in ihrem Zimmer. Sie umfährt ihn, drückt die Bremse, steht auf, setzt sich aber wieder. Wagt es nicht, sich mit dem Ding fortzubewegen. Da kommt auch schon die Oberschwester, ausnahmsweise wie gerufen, denn Helene will sich mit Rollator langsam anfreunden und die Oberschwester bitten, ihr ein bisschen behilflich zu sein.Die Oberschwester ist eigentlich nur gekommen, ihren Rollstuhl mitzunehmen.Interessenkonflikt.Ehe sie dazu kommt, ihn zu benennen, ist die Oberschwester mit dem Rollstuhl auf und davon. Sie ist platt. Steht. Zittert jetzt am Rollator. Setzt sich aufs Bett und versucht, sich zu fassen. Schwieriges Unterfangen, das muss sie zugeben. Starke Hände hätte sie jetzt gern um sich. Zupackende, die schneller sind, als sie reagieren kann, wenn sie stolpert, zu stürzen droht. Als sie sich besinnt, merkt sie, dass sie an Maljutka Malysch gedacht hat. Maljutka Malysch ist größer als Matthes und verspricht Schutz schon durch ihr breites Kreuz. Matthes verspricht auch Schutz, aber erst auf den zweiten Blick, der gelernt hat, dass Matthes schützt. Matthes ist noch viel länger als Maljutka Malysch, aber mit breiten Schultern kann er nicht aufwarten. Einen Moment lang ist sie so irritiert, dass ihr Matthes mit Maljutkas Gesicht erscheint, Maljutka mit dem von Matthes, ihre Gestalten verschwimmen, werden eins, gehen auseinander. Zum Glück jede mit dem richtigen Kopf. Sie atmet jetzt schnell. Sie erinnert sich plötzlich an einen Tag im März, sie hatte sich mit Maljutka im Pergamon-Museum verabredet. Das Markttor von Milet hatten sie eingehend betrachten wollen, denn Maljutka hatte sich zu ihrer Überraschung einen historischen Roman vorgenommen, der im sechsten Jahrhundert vor Christus spielt. Jetzt erinnert sich Helene, dass Maljutka im billigen Januar in die Türkei, nach Izmir, geflogen war und sich umgesehen hatte am Ort der Überlieferung. Das Geld dafür hatte sie von ihrer Mutter zum Geburtstag bekommen. Sie war ziemlich verängstigt wiedergekommen, denn in der muslimischen Türkei war es, obwohl sie sich indifferent gekleidet, die langen Haare gekürzt und sich sogar ein Paar derbe Wanderschuhe gekauft hatte, ein Vabanquespiel gewesen, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen. Mehrmals war sie in kleinen Dörfern derb angemacht worden und froh gewesen, dass sie nicht allein dorthin gefahren war, sondern mit einem Chauffeur einen Preis dafür ausgehandelt hatte, dass er sie an drei Tagen dorthin fuhr, wo sie hinwollte. Hatte es in der Geschichte nicht um Thales und Anaximander gehen sollen, die sich um einen Schüler stritten? Im sechsten Jahrhundert vor Christus sollte der Roman spielen, und sie hatten Tränen gelacht, als sie mitbekamen, wann das Markttor gebaut worden war: im zweiten nachchristlichen! Maljutka hatte eine Anekdote zum Besten gegeben, die man sich von Thales erzählte. Um es den Leuten zu zeigen, die ihm seine Armut vorwarfen, hatte er eines Winters alle Olivenpressen Milets für sein bisschen Geld gemietet. Aus der Stellung der Sterne sollte er nämlich berechnet haben, dass die nächste Olivenernte sehr reichlich ausfallen würde. Zur Erntezeit waren also alle Pressen in seiner Hand. Er vermietete sie weiter und verdiente daran gut. Als sie das Museum verließen, hatte sich Maljutka eine Idee gewünscht, die der des Thales nahekäme und ihr bisschen Geld so vermehrte, dass sie endlich tun und lassen könnte, was sie wollte. Sie hatte die derben Wanderschuhe an, die sie sich für die Türkei gekauft hatte, und dachte an ihre Mutter, die ihr nicht nur für die Türkeireise, sondern auch zu anderen Begehrlichkeiten Geld zusteckte, wovon natürlich kein Amt etwas wissen durfte. Im Moment war sie blank, sie kehrte wie zum Beweis die Manteltaschen nach außen, weshalb sie sich lieber verabschieden wollte, ehe sie noch in die Verlegenheit käme, von Helene ins Café eingeladen zu werden. Aber Helene hatte sie plötzlich untergehakt und sie mitgezogen, hatte gespürt, dass sie sehr freiwillig mitkam. Sie waren in einer Kneipe am Prenzlauer Berg gelandet, hatten Wein getrunken und eine Kleinigkeit gegessen, als Maljutka sie plötzlich wieder so angesehen und geküsst hatte wie im Marschschatten der Muschelschale von Zinnowitz, hier interessierte das keinen, niemand hatte zu ihnen geschaut, und sie hatten nach eiligem Bezahlen nichts anderes zu tun gehabt, als holpernd zwei Häuser weiter in ein kleines Hotel zu stolpern. Nach einem Zimmer zu fragen. Man hatte eines. Maljutka hatte noch einmal versucht, an ihren akuten Geldmangel zu erinnern, aber Helene hatte nur ihre Kreditkarte hervorblitzen lassen. Später hatte sie sich zu Maljutkas Füßen herabsinken lassen und eben anfangen wollen, sie hastig aus den Kleidern zu ziehen, als ihr plötzlich die Nacht mit Matthes eingefallen war. Ob sie nicht nüchtern genug war oder ob plötzliche Traurigkeit ihr ins Handwerk pfuschte, weiß sie nicht genau zu sagen, jedenfalls stöhnte sie Matthes, Matthes! und als Maljutka, die das wohl verstanden hatte, aber nicht verstanden haben wollte, innegehalten und sie angeschaut hatte, da war ihr zu Bewusstsein gekommen, was sie gesagt hatte. Sie hatte nun Maljutkas Mund verschlossen, als wäre der es gewesen, der solcherart Namen gestöhnt hätte, hatte Maljutka vergessen machen wollen, was sie da mit eigenen Ohren gehört hatte, und trotzdem hatte sich Matthes nicht mehr wegdrängen lassen aus den zersplitterten Gedanken, die ihr noch kamen.Als sie am nächsten Morgen aufgewacht waren, nebeneinander, Maljutkas Arm auf ihrer Brust, da war es Maljutka gewesen, die gesagt hatte, sie sei eben kein besserer Kerl als Matthes. Bedauernd hatte sie es gesagt, und bedauernd hatte ihr Gesicht ausgesehen, das Helene in Erinnerung hat, als sei Maljutka eben aus dem Zimmer gegangen. Aber sie ist im März aus dem Zimmer gegangen, aus dem Hotelzimmer, mit der bedauernden Ansage, Helene den Kerl nicht ersetzen zu können, und Helene spürt jetzt wieder die Kälte, die dieser Satz über sie gebracht hatte, die Härchen hatten sich aufgerichtet auf den Armen. Das war so geblieben, als sie später alleine die Treppe hinunterging und das Hotelzimmer bezahlte, mit der S-Bahn nach Karlshorst fuhr, in die Arberstraße. Zum Glück waren Matthes und die Töchter nicht da gewesen, denn es war ein ganz normaler Arbeitstag, Dienstag? Mittwoch? und sie hatte sich erst einmal in die Badewanne gelegt und immer wieder heißes Wasser nachlaufen lassen, immer wieder, aber die Kälte war geblieben und war auch dann nicht vergangen, als Matthes von der Arbeit gekommen war. Sie war krank geworden, eine heftige Grippe hatte sie es genannt und hatte es doch besser gewusst, hatte Matthes etwas vorgelogen, dass sie ihre Freundin Kerstin zufällig getroffen hätte, sie hätten zu schnell zu viel Wein getrunken, als dass sie dem Grappa danach seine einschläfernde Wirkung hätten anmerken können. Kerstin hätte ihr im Kinderzimmer ein Bett gemacht. Sie wusste, dass Matthes niemals bei Kerstin nachfragen würde, ob es stimmte, und sie war ihrer heftigen Grippe sehr dankbar dafür gewesen, dass sie einen Vorwand abgab für einige Nächte allein in ihrem Arbeitszimmer, während Matthes, lange nach ihrer vermeintlichen Novemberdepression im letzten Jahr, unten im gemeinsamen Schlafzimmer darauf gewartet hatte, dass sie zu ihm kam.Das Zittern legt sich, als ihr das alles einfällt. Dabei ist ihr so sehr nach Zittern … Noch immer sitzt sie auf dem Bett, und als sie jetzt aufsteht, staunt sie über die Kraft, die sie auch im rechten Bein spürt. Nicht Beweglichkeit, aber Kraft. Sie fasst sich ein Herz und dreht ein paar Runden im Zimmer, ehe sie die Jacke anzieht, das Tuch um den Hals legt, die Tür öffnet und hinausgeht, dem Fahrstuhl zu. Fort möchte sie, allein sein. Weg von der stationären Geschäftigkeit. Wenn es geht, am Wasser.