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Natürlich schafft sie es nicht bis zum Wasser. Die Abneigung, den Abstieg über die mit steinernen Absätzen abgefangenen Serpentinen mit dem Rollator zu bewerkstelligen, wird größer, je näher sie ihnen kommt, sie kehrt wieder um. Außerdem ist es überraschend kalt, selbst wenn sie das Tuch bis vor den Mund zieht. Ein dickeres als dieses blaue Viskosetuch hat sie nicht hier, sie muss Matthes wohl schon um einen Schal bitten. Dabei war sie nie eine Frierkatze, hielt es am längsten ohne Strümpfe aus in der Familie und ging noch ärmellos, wenn die anderen längst Übergangsmäntel trugen. Was ihr geschehen ist, hat offenbar ihr Empfinden ziemlich durcheinandergebracht, wenn sie im September schon einen Schal möchte. Auch derbere Schuhe hätte sie gern als die leichten, weißen Sportschuhe, die Matthes gekauft hatte, ohne ihre Füße mitgenommen zu haben. Sie passen ausgezeichnet, halten aber Wind und Wetter nicht stand, jetzt, wo sie sich anschickt, wieder auf eigenen Beinen zu gehen. Der rechte Fuß schleift, wenn sie nicht daran denkt, ihn zu heben, über den Boden. Sie denkt sehr oft an ganz andere Dinge — sehr oft schleift der Fuß. Der rechte Schuh ist schon von diesem kleinen Wegstück bis zum Waldanfang an der Kappe mitgenommen. Sie nimmt sich vor, fünfzig Schritte lang daran zu denken, den Fuß zu heben. Das klappt. Also auch die nächsten fünfzig Schritte, bitte, doch da kommt ihr ein Gesicht dazwischen, das sie zu kennen glaubt. Sie weiß nicht, woher. Der Mann sieht sie an, geht aber grußlos vorbei, scheint sie nicht zu kennen. An einer Krücke geht er und bewegt das linke Bein entgegen der erheblichen Spastik geschickt. Sein Gang ist nicht rund, sieht aber sicher aus. Woher kennt sie ihn nur?Erneut ruft sie sich zum Fußheben auf, na los, bis zum Fahrstuhl schaffst du es noch. Sie merkt nicht, dass hinter ihr die Oberschwester geht.Schön aufpassen! Das sieht aber gar nicht gut aus, das ist ja noch viel zu früh! Viel zu gefährlich, Sie fallen ja über den rechten Fuß! Das hat ihr gerade noch gefehlt … War sie es nicht gewesen, die ihr den Rollstuhl einfach weggenommen hatte?Sie reagiert nicht. Geht einfach weiter. Tut so, als hätte sie nichts gehört.Die Oberschwester steigt mir ihr gemeinsam in den Fahrstuhl. Sie sieht Helene, wahrscheinlich immer noch in Erwartung einer Antwort, durchdringend an, aber die lächelt nur. Als sie oben angekommen sind, möchte die Oberschwester am liebsten abermals ausholen, man sieht schon, wie ihr die Brust schwillt, doch Helene macht … pffffffffffftttttt!, zeigt der Oberschwester, wie man Luft ablässt.Sehr verdutzt sieht die ihr hinterher.

Helene hat lange überlegt, ob sie den Rollstuhl für einige Zeit zurückhaben möchte. Es war leichter und sicherer, sich mit ihm zu bewegen, aber sie bemerkt auch, dass die rechte Hand besser beansprucht wird durch den Rollator. Immerhin muss sie sich ja auch schließen um dessen Griff, sonst könnte sie keinen Schritt machen. Sie ist überrascht, wie die Hand sich anstellt. Gar nicht schlecht. Dabei kann sie den rechten Arm immer noch kein Stück anheben! Sie probiert es unwillkürlich: Na ja, vielleicht fünfzehn Zentimeter sind es schon, auf jeden Fall ist das besser als vor sechs Wochen oder auch nur vor zwei. Etwas wie Optimismus droht durchzubrechen, wo sie sich doch im Annehmen von Schicksal so sehr geübt hat, dass sie immer nur daran denkt, mit der bestehenden Situation irgendwie zurechtzukommen. Dabei verbessert sich die bestehende Situation stets und ständig — das hat sie bislang richtiggehend ausgeblendet. Sie will den Optimismus am Kragen packen, damit er ihr nicht entkommt. Der Optimismus hat aber gar keinen Kragen, sondern steht auf einmal als nacktes Männchen im Raum, über das sie lachen muss. Das Männchen wird traurig, seine Schultern fallen ein, es dreht sich um und will verschwinden, sich einfach aus dem Staub machen. Halt! ruft sie laut, bezwingt das Lachen und beschließt, dem Kerlchen zur Seite zu stehen, es nicht aus den Augen zu lassen, es unter die Fittiche zu nehmen, es aufzupäppeln und zu einer schönen, stolzen Erscheinung zu machen. Da erst fällt ihr auf, dass der Optimismus männlich ist, sie sieht sein Schwänzchen und den zarten Bartflaum, der ihm um den Mund geschrieben steht. Vielleicht sollte sie ihn beim Aufpäppeln Anteil nehmen lassen an ihren Östrogenen und ihn zu einer schönen, stolzen Weiblichkeit machen … Wie ist das eigentlich mit ihrer Weiblichkeit? Im vergangenen Jahr war sie noch einmal schwanger geworden, ihr sechstes Kind hatte sich vier Monate lang angekündigt und war dann wieder verschwunden. Sie hatte an der Fehlgeburt schwer zu leiden gehabt, obwohl es ein unbeabsichtigtes und unerwartetes Kind gewesen war. Jenseits der vierzig, hatte sie die Wahrscheinlichkeit, noch einmal schwanger werden zu können, wohl in den Skat gedrückt. Und jetzt? Sie hat ihre Regel doch schon mehr als zwei Monate nicht gehabt, oder?O Gott.Was, wenn sie schwanger ist?Wenn das Kind Schaden genommen hat an dem, was man ihm zugemutet hat über die vielen Wochen? Plötzlich wird sie unruhig.Sie möchte einen Termin bei einem Gynäkologen, sagt sie der Oberschwester, die sie im Schwesternzimmer aufsucht.